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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zum achtzigsten Geburtstage des Fürsten Vismarck

Wohl dem Volke, das seine großen Männer ehrt.

Kaiser Wilhelm II.

meer den großen Männern, die das deutsche Reich aufgerichtet
haben, sind die bedeutendsten weit über die gewöhnliche Grenze
des menschlichen Lebens hinausgeschritten. Kaiser Wilhelm I.
und Graf Moltke hatten beide das neunzigste Lebensjahr hinter
sich, als sie abgerufen wurden, und der große Kanzler, der eigent¬
liche Neichsbaumeister, vollendet in diesen Tagen sein achtzigstes Lebensjahr.
Allen ist es beschieden gewesen, eine erstaunliche körperliche und geistige Rüstig¬
keit zu bewahren, und sie sind bis zuletzt der Bürde ihres hohen Amtes ge¬
wachsen geblieben. Nur Fürst Bismarck ist noch vollkräftig aus dem Amte
geschieden, aber die Schärfe seines Blicks und die Wucht seines Willens, seine
ganze gewaltige Persönlichkeit, sie sind noch heute dieselben wie vor fünf Jahren,
und nur gewachsen ist, wenn das überhaupt uoch möglich war, mit elemen¬
tarer Gewalt die Verehrung für ihn. Die Gestalt des Fürsten in seiner stolzen,
selbstgewählten Einsamkeit ist ein lebendiges Sinnbild der nationalen Einheit
geworden, sein Geburtstag ein nationales Fest.

Zwar die Parteien, die leider wieder einmal die Mehrheit im Reichstage
bilden, haben eine Kundgebung dieser Körperschaft jetzt ebenso zu verhindern
gewußt wie vor fünf Jahren, als er entlassen wurde, und man könnte deshalb
zweifeln, ob denn wirklich die Nation als solche in ihrer Mehrheit diese Ver¬
ehrung hege. Aber wer ist die Nation, oder besser, worin besteht der Kern
der Nation, in dem die Einsicht und der Wille leben, eine Nation zu sein?
Gehören dazu wirklich alle die, die innerhalb der deutschen Reichsgrenzen die
deutsche Sprache reden, und die außerhalb dieser Grenzen, die sich als Deutsche


Grenzboten I 1895 7g


Zum achtzigsten Geburtstage des Fürsten Vismarck

Wohl dem Volke, das seine großen Männer ehrt.

Kaiser Wilhelm II.

meer den großen Männern, die das deutsche Reich aufgerichtet
haben, sind die bedeutendsten weit über die gewöhnliche Grenze
des menschlichen Lebens hinausgeschritten. Kaiser Wilhelm I.
und Graf Moltke hatten beide das neunzigste Lebensjahr hinter
sich, als sie abgerufen wurden, und der große Kanzler, der eigent¬
liche Neichsbaumeister, vollendet in diesen Tagen sein achtzigstes Lebensjahr.
Allen ist es beschieden gewesen, eine erstaunliche körperliche und geistige Rüstig¬
keit zu bewahren, und sie sind bis zuletzt der Bürde ihres hohen Amtes ge¬
wachsen geblieben. Nur Fürst Bismarck ist noch vollkräftig aus dem Amte
geschieden, aber die Schärfe seines Blicks und die Wucht seines Willens, seine
ganze gewaltige Persönlichkeit, sie sind noch heute dieselben wie vor fünf Jahren,
und nur gewachsen ist, wenn das überhaupt uoch möglich war, mit elemen¬
tarer Gewalt die Verehrung für ihn. Die Gestalt des Fürsten in seiner stolzen,
selbstgewählten Einsamkeit ist ein lebendiges Sinnbild der nationalen Einheit
geworden, sein Geburtstag ein nationales Fest.

Zwar die Parteien, die leider wieder einmal die Mehrheit im Reichstage
bilden, haben eine Kundgebung dieser Körperschaft jetzt ebenso zu verhindern
gewußt wie vor fünf Jahren, als er entlassen wurde, und man könnte deshalb
zweifeln, ob denn wirklich die Nation als solche in ihrer Mehrheit diese Ver¬
ehrung hege. Aber wer ist die Nation, oder besser, worin besteht der Kern
der Nation, in dem die Einsicht und der Wille leben, eine Nation zu sein?
Gehören dazu wirklich alle die, die innerhalb der deutschen Reichsgrenzen die
deutsche Sprache reden, und die außerhalb dieser Grenzen, die sich als Deutsche


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[0615] [Abbildung] Zum achtzigsten Geburtstage des Fürsten Vismarck Wohl dem Volke, das seine großen Männer ehrt. Kaiser Wilhelm II. meer den großen Männern, die das deutsche Reich aufgerichtet haben, sind die bedeutendsten weit über die gewöhnliche Grenze des menschlichen Lebens hinausgeschritten. Kaiser Wilhelm I. und Graf Moltke hatten beide das neunzigste Lebensjahr hinter sich, als sie abgerufen wurden, und der große Kanzler, der eigent¬ liche Neichsbaumeister, vollendet in diesen Tagen sein achtzigstes Lebensjahr. Allen ist es beschieden gewesen, eine erstaunliche körperliche und geistige Rüstig¬ keit zu bewahren, und sie sind bis zuletzt der Bürde ihres hohen Amtes ge¬ wachsen geblieben. Nur Fürst Bismarck ist noch vollkräftig aus dem Amte geschieden, aber die Schärfe seines Blicks und die Wucht seines Willens, seine ganze gewaltige Persönlichkeit, sie sind noch heute dieselben wie vor fünf Jahren, und nur gewachsen ist, wenn das überhaupt uoch möglich war, mit elemen¬ tarer Gewalt die Verehrung für ihn. Die Gestalt des Fürsten in seiner stolzen, selbstgewählten Einsamkeit ist ein lebendiges Sinnbild der nationalen Einheit geworden, sein Geburtstag ein nationales Fest. Zwar die Parteien, die leider wieder einmal die Mehrheit im Reichstage bilden, haben eine Kundgebung dieser Körperschaft jetzt ebenso zu verhindern gewußt wie vor fünf Jahren, als er entlassen wurde, und man könnte deshalb zweifeln, ob denn wirklich die Nation als solche in ihrer Mehrheit diese Ver¬ ehrung hege. Aber wer ist die Nation, oder besser, worin besteht der Kern der Nation, in dem die Einsicht und der Wille leben, eine Nation zu sein? Gehören dazu wirklich alle die, die innerhalb der deutschen Reichsgrenzen die deutsche Sprache reden, und die außerhalb dieser Grenzen, die sich als Deutsche Grenzboten I 1895 7g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/615>, abgerufen am 27.04.2024.