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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Meinungen und Äußerungen

s ist begreiflich, daß das Einschreiten des Staatsanwalts gegen
den Abgeordneten Liebknecht wegen seines Verhaltens in der
ersten Sitzung im neuen Neichstagsgebäude die Erinnerung um
die Vorgänge wachgerufen hat, die sich vor dreißig Jahren in
dem Prozeß gegen den damaligen preußischen Landtagsab-
geordneten Tochter abspielten. Damals handelte es sich um die Auslegung
des Art. 84 der preußischen Verfassung, der so lautete: "Sie (die Mitglieder
der beiden Kammern des Landtags) können für ihre Abstimmungen in den
Kammern niemals, für ihre darin ausgesprochnen Meinungen nur innerhalb
der Kammern auf Grund der Geschäftsordnung zur Rechenschaft gezogen
werden," Trotzdem war die Staatsanwaltschaft gegen den Abgeordneten
Tochter wegen einer im Sommer 1865 im Abgeordnetenhaus? gehaltenen
Rede eingeschritten, da sie nach ihrer Auffassung verleumderische Beleidigungen
enthielt. Das Kreisgericht und das Kammergericht in Berlin lehnten die Er¬
öffnung des Verfahrens im Hinblick auf Art. 84 der Verfassung ab, ein
Beschluß des Obertribunals vom 29. Januar 1866 aber leitete die Untersuchung
ein. Das Obertribunal legte in diesem Beschluß den Art. 84 dahin aus, daß
unter Meinungen nur Ergebnisse des Denkens, nicht aber Behauptungen und
Verbreitungen von Thatsachen zu verstehen seien. Daher sei zwar wegen der
in der Ausübung ihres Berufs ausgesprochnen Beleidigungen ohne verleum¬
derischen Charakter eine gerichtliche Verfolgung der Abgeordneten nicht zulässig,
wohl aber wegen wirklicher Verleumdungen.

Der Beschluß erregte im Lande ein ungeheures Aufsehen, er wurde
überwiegend als eine Rechtsbeugung empfunden und auch in der Litteratur,
mit wenigen Ausnahmen, scharf bekämpft. Unter seinen Fürsprechern war
der nennenswerteste der damalige Ministerpräsident von Bismarck. Bei einer
am 10. Februar 1866 im Abgeordnetenhaus" gehaltenen Rede verwies er auf
den Verfassungsentwurf von 1848, der die Verfolgung ausschloß "für die
von den Abgeordneten gesprochnen Worte und Meinungen." Aus dein Weg¬
fall der "Worte" und der Änderung der Stelle in die Fassung "für ihre
darin ausgesprochnen Meinungen" schloß Bismarck, daß die Straffreiheit auf¬
gehört habe "für die zahlreichen Verbrechen, die von der frühern Fassung mit




Meinungen und Äußerungen

s ist begreiflich, daß das Einschreiten des Staatsanwalts gegen
den Abgeordneten Liebknecht wegen seines Verhaltens in der
ersten Sitzung im neuen Neichstagsgebäude die Erinnerung um
die Vorgänge wachgerufen hat, die sich vor dreißig Jahren in
dem Prozeß gegen den damaligen preußischen Landtagsab-
geordneten Tochter abspielten. Damals handelte es sich um die Auslegung
des Art. 84 der preußischen Verfassung, der so lautete: „Sie (die Mitglieder
der beiden Kammern des Landtags) können für ihre Abstimmungen in den
Kammern niemals, für ihre darin ausgesprochnen Meinungen nur innerhalb
der Kammern auf Grund der Geschäftsordnung zur Rechenschaft gezogen
werden," Trotzdem war die Staatsanwaltschaft gegen den Abgeordneten
Tochter wegen einer im Sommer 1865 im Abgeordnetenhaus? gehaltenen
Rede eingeschritten, da sie nach ihrer Auffassung verleumderische Beleidigungen
enthielt. Das Kreisgericht und das Kammergericht in Berlin lehnten die Er¬
öffnung des Verfahrens im Hinblick auf Art. 84 der Verfassung ab, ein
Beschluß des Obertribunals vom 29. Januar 1866 aber leitete die Untersuchung
ein. Das Obertribunal legte in diesem Beschluß den Art. 84 dahin aus, daß
unter Meinungen nur Ergebnisse des Denkens, nicht aber Behauptungen und
Verbreitungen von Thatsachen zu verstehen seien. Daher sei zwar wegen der
in der Ausübung ihres Berufs ausgesprochnen Beleidigungen ohne verleum¬
derischen Charakter eine gerichtliche Verfolgung der Abgeordneten nicht zulässig,
wohl aber wegen wirklicher Verleumdungen.

Der Beschluß erregte im Lande ein ungeheures Aufsehen, er wurde
überwiegend als eine Rechtsbeugung empfunden und auch in der Litteratur,
mit wenigen Ausnahmen, scharf bekämpft. Unter seinen Fürsprechern war
der nennenswerteste der damalige Ministerpräsident von Bismarck. Bei einer
am 10. Februar 1866 im Abgeordnetenhaus« gehaltenen Rede verwies er auf
den Verfassungsentwurf von 1848, der die Verfolgung ausschloß „für die
von den Abgeordneten gesprochnen Worte und Meinungen." Aus dein Weg¬
fall der „Worte" und der Änderung der Stelle in die Fassung „für ihre
darin ausgesprochnen Meinungen" schloß Bismarck, daß die Straffreiheit auf¬
gehört habe „für die zahlreichen Verbrechen, die von der frühern Fassung mit


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[0068] [Abbildung] Meinungen und Äußerungen s ist begreiflich, daß das Einschreiten des Staatsanwalts gegen den Abgeordneten Liebknecht wegen seines Verhaltens in der ersten Sitzung im neuen Neichstagsgebäude die Erinnerung um die Vorgänge wachgerufen hat, die sich vor dreißig Jahren in dem Prozeß gegen den damaligen preußischen Landtagsab- geordneten Tochter abspielten. Damals handelte es sich um die Auslegung des Art. 84 der preußischen Verfassung, der so lautete: „Sie (die Mitglieder der beiden Kammern des Landtags) können für ihre Abstimmungen in den Kammern niemals, für ihre darin ausgesprochnen Meinungen nur innerhalb der Kammern auf Grund der Geschäftsordnung zur Rechenschaft gezogen werden," Trotzdem war die Staatsanwaltschaft gegen den Abgeordneten Tochter wegen einer im Sommer 1865 im Abgeordnetenhaus? gehaltenen Rede eingeschritten, da sie nach ihrer Auffassung verleumderische Beleidigungen enthielt. Das Kreisgericht und das Kammergericht in Berlin lehnten die Er¬ öffnung des Verfahrens im Hinblick auf Art. 84 der Verfassung ab, ein Beschluß des Obertribunals vom 29. Januar 1866 aber leitete die Untersuchung ein. Das Obertribunal legte in diesem Beschluß den Art. 84 dahin aus, daß unter Meinungen nur Ergebnisse des Denkens, nicht aber Behauptungen und Verbreitungen von Thatsachen zu verstehen seien. Daher sei zwar wegen der in der Ausübung ihres Berufs ausgesprochnen Beleidigungen ohne verleum¬ derischen Charakter eine gerichtliche Verfolgung der Abgeordneten nicht zulässig, wohl aber wegen wirklicher Verleumdungen. Der Beschluß erregte im Lande ein ungeheures Aufsehen, er wurde überwiegend als eine Rechtsbeugung empfunden und auch in der Litteratur, mit wenigen Ausnahmen, scharf bekämpft. Unter seinen Fürsprechern war der nennenswerteste der damalige Ministerpräsident von Bismarck. Bei einer am 10. Februar 1866 im Abgeordnetenhaus« gehaltenen Rede verwies er auf den Verfassungsentwurf von 1848, der die Verfolgung ausschloß „für die von den Abgeordneten gesprochnen Worte und Meinungen." Aus dein Weg¬ fall der „Worte" und der Änderung der Stelle in die Fassung „für ihre darin ausgesprochnen Meinungen" schloß Bismarck, daß die Straffreiheit auf¬ gehört habe „für die zahlreichen Verbrechen, die von der frühern Fassung mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/68>, abgerufen am 27.04.2024.