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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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des ans Luther folgenden Zeitraums gelten ihm Descartes, Spinoza, Leibniz
und deren Schüler, in der Philosophie bis zu Hegel liegt für ihn die wahre
Weiterentwicklung des menschlichen Geistes, und er spürt selbst, daß er damit
aus ein "bis ans weiteres unlösbares Problem" trifft. Die unüberwindlichen
Schwierigkeiten (der Zwiespalt zwischen dem überlieferten evangelischen Christen¬
tum und der Weltanschauung der großen Dichter und der philosophischen
Denker) "haben dazu geführt, daß die Religion immer mehr Adiaphoron wurde;
daß dies aber nur ein Provisorium sein kann, liegt ans der Hand. So gewiß
wie, um Hegels Ausspruch zu wiederholen, die Religion der Ort ist, wo ein
Volk sich die Definition dessen giebt, was es für das Wahre hält, so gewiß
muß auch der Religionsunterricht derjenige sein, von dem alle übrigen Lehr¬
gegenstände ausgehen und dem sie alle zustreben. -- Es bleibt nichts übrig, als
sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß das nächste Jahrhundert voll¬
endet, was das jetzige begonnen hat, und daß etwas neues um Stelle des alten
tritt." "Die mit Kant beginnende und mit dem durch seine Nachfolger inter-
Pretirten Hegel abschließende Philosophie muß in eine Form gebracht werden,
welche sie von ihrer Exklusivität befreit." Nicht einen Angenblick ziehen nur
in Zweifel, daß es Nerrlich heiliger Ernst mit seiner religiösen Sehnsucht, wie
mit seiner Hoffnung aus ein geniales Individuum ist, das ein neues schafft.
Aber das muß er selbst fühlen, daß für Hunderttausende der Besten diese Hoff¬
nung eben auch nur ein Stein statt lebendigen Brotes ist. Die "Umwandlung
des Hegelianismus in Religion"? Der Verfasser wird uns verzeihen, daß wir
unsre Augen lieber zu dem lebendigen Christusbilde zurückwenden in der Zu¬
versicht, daß dieses Zurück unter allen Umständen ein Vorwärts einschließt.




Wandlungen des Ich im Zeitenstrome')
^, Die Universität. Professoren

urz vor meinem Abgang zur Universität hatte der Fürstbischof
Diepenbrock ein Konvikt gestiftet, worin arme Studenten der
Theologie freie Wohnung, Frühstück, Abendbrot und zwei Mittags¬
tische die Woche erhielten. Da ich darin aufgenommen wurde,
war der Präfekt der Anstalt, Stern, der erste Professor, den ich
zu Gesicht bekam. Der zweite war der Prälat (Domdechant) Ritter, dem ich
mich vorstellen und für die Aufnahme danken mußte, weil er Kurator des



*) Vgl. die vorjährigen Grenzboten Heft 33. 34. 35. 47. SV.

des ans Luther folgenden Zeitraums gelten ihm Descartes, Spinoza, Leibniz
und deren Schüler, in der Philosophie bis zu Hegel liegt für ihn die wahre
Weiterentwicklung des menschlichen Geistes, und er spürt selbst, daß er damit
aus ein „bis ans weiteres unlösbares Problem" trifft. Die unüberwindlichen
Schwierigkeiten (der Zwiespalt zwischen dem überlieferten evangelischen Christen¬
tum und der Weltanschauung der großen Dichter und der philosophischen
Denker) „haben dazu geführt, daß die Religion immer mehr Adiaphoron wurde;
daß dies aber nur ein Provisorium sein kann, liegt ans der Hand. So gewiß
wie, um Hegels Ausspruch zu wiederholen, die Religion der Ort ist, wo ein
Volk sich die Definition dessen giebt, was es für das Wahre hält, so gewiß
muß auch der Religionsunterricht derjenige sein, von dem alle übrigen Lehr¬
gegenstände ausgehen und dem sie alle zustreben. — Es bleibt nichts übrig, als
sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß das nächste Jahrhundert voll¬
endet, was das jetzige begonnen hat, und daß etwas neues um Stelle des alten
tritt." „Die mit Kant beginnende und mit dem durch seine Nachfolger inter-
Pretirten Hegel abschließende Philosophie muß in eine Form gebracht werden,
welche sie von ihrer Exklusivität befreit." Nicht einen Angenblick ziehen nur
in Zweifel, daß es Nerrlich heiliger Ernst mit seiner religiösen Sehnsucht, wie
mit seiner Hoffnung aus ein geniales Individuum ist, das ein neues schafft.
Aber das muß er selbst fühlen, daß für Hunderttausende der Besten diese Hoff¬
nung eben auch nur ein Stein statt lebendigen Brotes ist. Die „Umwandlung
des Hegelianismus in Religion"? Der Verfasser wird uns verzeihen, daß wir
unsre Augen lieber zu dem lebendigen Christusbilde zurückwenden in der Zu¬
versicht, daß dieses Zurück unter allen Umständen ein Vorwärts einschließt.




Wandlungen des Ich im Zeitenstrome')
^, Die Universität. Professoren

urz vor meinem Abgang zur Universität hatte der Fürstbischof
Diepenbrock ein Konvikt gestiftet, worin arme Studenten der
Theologie freie Wohnung, Frühstück, Abendbrot und zwei Mittags¬
tische die Woche erhielten. Da ich darin aufgenommen wurde,
war der Präfekt der Anstalt, Stern, der erste Professor, den ich
zu Gesicht bekam. Der zweite war der Prälat (Domdechant) Ritter, dem ich
mich vorstellen und für die Aufnahme danken mußte, weil er Kurator des



*) Vgl. die vorjährigen Grenzboten Heft 33. 34. 35. 47. SV.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/85>, abgerufen am 27.04.2024.