Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der hohe Adel in Preußen

Ebenso wenig wie der Adel bildet heute das Bürgertum einen Stand,
und Herr von Boguslawski hat Recht, wenn er den Versuch, es als ein
"Staatsbürgertum" zu erklären, zurückweist, denn Staatsbürger sind sie alle,
vom Fürsten bis zum geringsten Arbeiter. Auch teilen wir sein Bedauern
darüber, daß der Großbetrieb das Handwerk allerorten in eine verzweifelte
Lage gebracht hat, und daß der gute Wille der verbündeten Regierungen, durch
eine neue Organisation den Handwerkerstand zu kräftigen, allem Anschein nach
auf große Hindernisse gestoßen ist. Bis diese überwunden wären, komme es
vor allem darauf an, den Stand des kleinen Grundbesitzes, den Bauernstand,
mit allen Mitteln, die mit dem Heil des Ganzen verträglich wären, zu erhalten,
denn er sei der einzige Stand, der sich als solcher erhalten habe; solange er
fest auf seiner Scholle stehe, werde der Sozialdemokratie der Sieg nicht leicht
werden. In der Freude, deu Verfasser endlich auf einem Punkte zu sehen,
wo wir ihm ohne jeden Vorbehalt zustimmen können, wollen wir über die
übertrieben düstere Schilderung in der ersten Hälfte seines Buches gern hinweg¬
sehen. Manchen Widerspruch, in den er mit sich selbst geraten ist, wird er
entdecken und beseitigen, wenn er seine Untersuchung noch einmal führt, und
zwar dort beginnt, wo sie jetzt ausläuft: am Sitz des Übels. Und wenn er
hiergegen einen Vollkampf eröffnen will, so wird er uns und unsre Leser
an seiner Seite finden. Aber an den Symptomen der Krankheit herumzudoktern,
während der Kranke zu Grunde geht, das überlassen wir den gescheiten Leuten,
die uns als Sozialdemokraten verschreien.




Der hohe Adel in Preußen
von Gustav Siegel

er übliche Begriff des deutschen hohen Adels deckt sich nicht ganz
mit dem Begriff, der hier unter dieser Bezeichnung verstanden
wird. Nach gemeinrechtlicher Auffassung ist der Stand des hohen
Adels in Deutschland geschlossen: nur die nicht regierenden Mit¬
glieder der souveränen Häuser und die mediatisirten, vormals
reichsunmittelbaren Familien, die zur Zeit der Auflösung des alten Reichs
Landeshoheit und Reichsstandschaft hatten, gehören ihm an. Das gemeinsame
Band unter ihnen ist die Ebenbürtigkeit. Wir fassen, wie sich aus dem nach¬
stehenden zeigen wird, den Begriff weiter, in gewisser Richtung auch enger.


Der hohe Adel in Preußen

Ebenso wenig wie der Adel bildet heute das Bürgertum einen Stand,
und Herr von Boguslawski hat Recht, wenn er den Versuch, es als ein
„Staatsbürgertum" zu erklären, zurückweist, denn Staatsbürger sind sie alle,
vom Fürsten bis zum geringsten Arbeiter. Auch teilen wir sein Bedauern
darüber, daß der Großbetrieb das Handwerk allerorten in eine verzweifelte
Lage gebracht hat, und daß der gute Wille der verbündeten Regierungen, durch
eine neue Organisation den Handwerkerstand zu kräftigen, allem Anschein nach
auf große Hindernisse gestoßen ist. Bis diese überwunden wären, komme es
vor allem darauf an, den Stand des kleinen Grundbesitzes, den Bauernstand,
mit allen Mitteln, die mit dem Heil des Ganzen verträglich wären, zu erhalten,
denn er sei der einzige Stand, der sich als solcher erhalten habe; solange er
fest auf seiner Scholle stehe, werde der Sozialdemokratie der Sieg nicht leicht
werden. In der Freude, deu Verfasser endlich auf einem Punkte zu sehen,
wo wir ihm ohne jeden Vorbehalt zustimmen können, wollen wir über die
übertrieben düstere Schilderung in der ersten Hälfte seines Buches gern hinweg¬
sehen. Manchen Widerspruch, in den er mit sich selbst geraten ist, wird er
entdecken und beseitigen, wenn er seine Untersuchung noch einmal führt, und
zwar dort beginnt, wo sie jetzt ausläuft: am Sitz des Übels. Und wenn er
hiergegen einen Vollkampf eröffnen will, so wird er uns und unsre Leser
an seiner Seite finden. Aber an den Symptomen der Krankheit herumzudoktern,
während der Kranke zu Grunde geht, das überlassen wir den gescheiten Leuten,
die uns als Sozialdemokraten verschreien.




Der hohe Adel in Preußen
von Gustav Siegel

er übliche Begriff des deutschen hohen Adels deckt sich nicht ganz
mit dem Begriff, der hier unter dieser Bezeichnung verstanden
wird. Nach gemeinrechtlicher Auffassung ist der Stand des hohen
Adels in Deutschland geschlossen: nur die nicht regierenden Mit¬
glieder der souveränen Häuser und die mediatisirten, vormals
reichsunmittelbaren Familien, die zur Zeit der Auflösung des alten Reichs
Landeshoheit und Reichsstandschaft hatten, gehören ihm an. Das gemeinsame
Band unter ihnen ist die Ebenbürtigkeit. Wir fassen, wie sich aus dem nach¬
stehenden zeigen wird, den Begriff weiter, in gewisser Richtung auch enger.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0015" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219691"/>
          <fw type="header" place="top"> Der hohe Adel in Preußen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_26"> Ebenso wenig wie der Adel bildet heute das Bürgertum einen Stand,<lb/>
und Herr von Boguslawski hat Recht, wenn er den Versuch, es als ein<lb/>
&#x201E;Staatsbürgertum" zu erklären, zurückweist, denn Staatsbürger sind sie alle,<lb/>
vom Fürsten bis zum geringsten Arbeiter. Auch teilen wir sein Bedauern<lb/>
darüber, daß der Großbetrieb das Handwerk allerorten in eine verzweifelte<lb/>
Lage gebracht hat, und daß der gute Wille der verbündeten Regierungen, durch<lb/>
eine neue Organisation den Handwerkerstand zu kräftigen, allem Anschein nach<lb/>
auf große Hindernisse gestoßen ist. Bis diese überwunden wären, komme es<lb/>
vor allem darauf an, den Stand des kleinen Grundbesitzes, den Bauernstand,<lb/>
mit allen Mitteln, die mit dem Heil des Ganzen verträglich wären, zu erhalten,<lb/>
denn er sei der einzige Stand, der sich als solcher erhalten habe; solange er<lb/>
fest auf seiner Scholle stehe, werde der Sozialdemokratie der Sieg nicht leicht<lb/>
werden. In der Freude, deu Verfasser endlich auf einem Punkte zu sehen,<lb/>
wo wir ihm ohne jeden Vorbehalt zustimmen können, wollen wir über die<lb/>
übertrieben düstere Schilderung in der ersten Hälfte seines Buches gern hinweg¬<lb/>
sehen. Manchen Widerspruch, in den er mit sich selbst geraten ist, wird er<lb/>
entdecken und beseitigen, wenn er seine Untersuchung noch einmal führt, und<lb/>
zwar dort beginnt, wo sie jetzt ausläuft: am Sitz des Übels. Und wenn er<lb/>
hiergegen einen Vollkampf eröffnen will, so wird er uns und unsre Leser<lb/>
an seiner Seite finden. Aber an den Symptomen der Krankheit herumzudoktern,<lb/>
während der Kranke zu Grunde geht, das überlassen wir den gescheiten Leuten,<lb/>
die uns als Sozialdemokraten verschreien.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der hohe Adel in Preußen<lb/><note type="byline"> von Gustav Siegel</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_27"> er übliche Begriff des deutschen hohen Adels deckt sich nicht ganz<lb/>
mit dem Begriff, der hier unter dieser Bezeichnung verstanden<lb/>
wird. Nach gemeinrechtlicher Auffassung ist der Stand des hohen<lb/>
Adels in Deutschland geschlossen: nur die nicht regierenden Mit¬<lb/>
glieder der souveränen Häuser und die mediatisirten, vormals<lb/>
reichsunmittelbaren Familien, die zur Zeit der Auflösung des alten Reichs<lb/>
Landeshoheit und Reichsstandschaft hatten, gehören ihm an. Das gemeinsame<lb/>
Band unter ihnen ist die Ebenbürtigkeit. Wir fassen, wie sich aus dem nach¬<lb/>
stehenden zeigen wird, den Begriff weiter, in gewisser Richtung auch enger.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0015] Der hohe Adel in Preußen Ebenso wenig wie der Adel bildet heute das Bürgertum einen Stand, und Herr von Boguslawski hat Recht, wenn er den Versuch, es als ein „Staatsbürgertum" zu erklären, zurückweist, denn Staatsbürger sind sie alle, vom Fürsten bis zum geringsten Arbeiter. Auch teilen wir sein Bedauern darüber, daß der Großbetrieb das Handwerk allerorten in eine verzweifelte Lage gebracht hat, und daß der gute Wille der verbündeten Regierungen, durch eine neue Organisation den Handwerkerstand zu kräftigen, allem Anschein nach auf große Hindernisse gestoßen ist. Bis diese überwunden wären, komme es vor allem darauf an, den Stand des kleinen Grundbesitzes, den Bauernstand, mit allen Mitteln, die mit dem Heil des Ganzen verträglich wären, zu erhalten, denn er sei der einzige Stand, der sich als solcher erhalten habe; solange er fest auf seiner Scholle stehe, werde der Sozialdemokratie der Sieg nicht leicht werden. In der Freude, deu Verfasser endlich auf einem Punkte zu sehen, wo wir ihm ohne jeden Vorbehalt zustimmen können, wollen wir über die übertrieben düstere Schilderung in der ersten Hälfte seines Buches gern hinweg¬ sehen. Manchen Widerspruch, in den er mit sich selbst geraten ist, wird er entdecken und beseitigen, wenn er seine Untersuchung noch einmal führt, und zwar dort beginnt, wo sie jetzt ausläuft: am Sitz des Übels. Und wenn er hiergegen einen Vollkampf eröffnen will, so wird er uns und unsre Leser an seiner Seite finden. Aber an den Symptomen der Krankheit herumzudoktern, während der Kranke zu Grunde geht, das überlassen wir den gescheiten Leuten, die uns als Sozialdemokraten verschreien. Der hohe Adel in Preußen von Gustav Siegel er übliche Begriff des deutschen hohen Adels deckt sich nicht ganz mit dem Begriff, der hier unter dieser Bezeichnung verstanden wird. Nach gemeinrechtlicher Auffassung ist der Stand des hohen Adels in Deutschland geschlossen: nur die nicht regierenden Mit¬ glieder der souveränen Häuser und die mediatisirten, vormals reichsunmittelbaren Familien, die zur Zeit der Auflösung des alten Reichs Landeshoheit und Reichsstandschaft hatten, gehören ihm an. Das gemeinsame Band unter ihnen ist die Ebenbürtigkeit. Wir fassen, wie sich aus dem nach¬ stehenden zeigen wird, den Begriff weiter, in gewisser Richtung auch enger.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/15
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/15>, abgerufen am 04.05.2024.