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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Sedini

das nicht geweckt hat, was alle die Totengebeine aufgeschreckt und zusammen¬
gefügt hat. Und das Weib hat die Hände mit in seinem Schicksal gehabt, das
sieht man. Erst hat sie hinter den andern gezögert, dann läuft sie zurück.
Der Kopf ist vornübergeworfen gegen die aufgesprungne Gruft, Leidenschaft in
jeder Muskel, so schreit sich zu ihm nieder: Willst du uicht aufstehn, Heinrich,
der jüngste Tag bricht an!

Franzi sah prüfend auf den Entwurf, dann suchte sie die Stellung, erst
mit Hüfte und Schenkeln, dann mit der Schulter; sie stemmte sie gegen
einen schweren Holzrahmen und bog den Hals nieder, als wollte sie in die
Tiefe rufen.

Gute Seele! murmelte er wie verloren.

Mechanisch hatte er nach der Kohle gegriffen und zeichnete, fast ohne
zu atmen. Endlich hielt er an.

Wie haben Sie es nur gemacht, daß Sie die Stellung gleich so erwischt
haben, wie ich sie brauch?

Franzi wand sich behutsam aus ihrer Lage auf. Daheim ist die Keller¬
luke im Boden, sagte sie, und wenn mir die Magd zu lang bei der Milch unten
bleibt, schrei ich hinunter. Jetzt hab ich mir halt gedacht, ich ruf nach der
Kuni im Keller. -- Es macht steif, setzte sie hinzu, und strich mit der rechten
Hand am linken Arm herunter, als wenn sie die Muskeln wieder zurecht-
streichen wollte.

Gute Seele, Gott vergelts! sagte der Schirm, ohne die Kohle weg¬
zulegen.

Franzi lachte: Ich soll noch mehr stehn? Aber erst eine Weile rasten!

Ruh dich, rud dich! sagte er. Damit legte er den Stift nieder und stäubte
die Kohle von den Fingern. Dann sah er nach der Uhr.

Jessas, wie spät magh denn sein? rief Franzi.

Halb neun!

Da muß ich eiligst heim, die Base wird schon schaun, wo ich bleibe.

Ja so, die Vase! sagte Sedini.

Er sah plötzlich müde aus. Der Glanz und die Begeisterung war aus
seinen Augen weg, und als sich die Thür hinter ihr geschlossen hatte, hörte
Franzi noch, wie er sich niederwarf, um zu schlafen.


5

Daheim war die Küche ganz mit Sonnenschein erfüllt, und die Base war
fort, um einzukaufen. Franzi zog sich aus und legte sich noch ein wenig
schlafen in der dunkeln Kammer, aber die Thürspalte schloß sie nicht. So
mit dem Blick auf das Sonncngefunkel drüben schlief sie ein. Sie träumte,
daheim im Teich sei ein Kind untergegangen, eins von den Flachsköpfen,
die immer ihr Kleid aufnehmen bis unters Kinn und mit den kleinen runden
Beinen hiuciuwaten, bis der Rockzipfel doch naß wird. Dasmal war eines
zu weit hineingeraten, und nun lief das ganze Dorf, aber keiner kam näher,
und neben ihr'sagte einer: Franzi, jetzt banges noch an dir! Sie hatte keinen
Atem mehr, die Füße waren ihr schwer, in unregelmäßigen Absätzen traten sie
auf den Boden. Aber: Jetzt banges noch an dir! hörte sie immer noch und
hob die Füße wieder und taumelte weiter. Es muß gehen, es hangt noch
an mir! Da war sie im Wasser, sie fühlte es kalt an der Kehle -- und schlug


Sedini

das nicht geweckt hat, was alle die Totengebeine aufgeschreckt und zusammen¬
gefügt hat. Und das Weib hat die Hände mit in seinem Schicksal gehabt, das
sieht man. Erst hat sie hinter den andern gezögert, dann läuft sie zurück.
Der Kopf ist vornübergeworfen gegen die aufgesprungne Gruft, Leidenschaft in
jeder Muskel, so schreit sich zu ihm nieder: Willst du uicht aufstehn, Heinrich,
der jüngste Tag bricht an!

Franzi sah prüfend auf den Entwurf, dann suchte sie die Stellung, erst
mit Hüfte und Schenkeln, dann mit der Schulter; sie stemmte sie gegen
einen schweren Holzrahmen und bog den Hals nieder, als wollte sie in die
Tiefe rufen.

Gute Seele! murmelte er wie verloren.

Mechanisch hatte er nach der Kohle gegriffen und zeichnete, fast ohne
zu atmen. Endlich hielt er an.

Wie haben Sie es nur gemacht, daß Sie die Stellung gleich so erwischt
haben, wie ich sie brauch?

Franzi wand sich behutsam aus ihrer Lage auf. Daheim ist die Keller¬
luke im Boden, sagte sie, und wenn mir die Magd zu lang bei der Milch unten
bleibt, schrei ich hinunter. Jetzt hab ich mir halt gedacht, ich ruf nach der
Kuni im Keller. — Es macht steif, setzte sie hinzu, und strich mit der rechten
Hand am linken Arm herunter, als wenn sie die Muskeln wieder zurecht-
streichen wollte.

Gute Seele, Gott vergelts! sagte der Schirm, ohne die Kohle weg¬
zulegen.

Franzi lachte: Ich soll noch mehr stehn? Aber erst eine Weile rasten!

Ruh dich, rud dich! sagte er. Damit legte er den Stift nieder und stäubte
die Kohle von den Fingern. Dann sah er nach der Uhr.

Jessas, wie spät magh denn sein? rief Franzi.

Halb neun!

Da muß ich eiligst heim, die Base wird schon schaun, wo ich bleibe.

Ja so, die Vase! sagte Sedini.

Er sah plötzlich müde aus. Der Glanz und die Begeisterung war aus
seinen Augen weg, und als sich die Thür hinter ihr geschlossen hatte, hörte
Franzi noch, wie er sich niederwarf, um zu schlafen.


5

Daheim war die Küche ganz mit Sonnenschein erfüllt, und die Base war
fort, um einzukaufen. Franzi zog sich aus und legte sich noch ein wenig
schlafen in der dunkeln Kammer, aber die Thürspalte schloß sie nicht. So
mit dem Blick auf das Sonncngefunkel drüben schlief sie ein. Sie träumte,
daheim im Teich sei ein Kind untergegangen, eins von den Flachsköpfen,
die immer ihr Kleid aufnehmen bis unters Kinn und mit den kleinen runden
Beinen hiuciuwaten, bis der Rockzipfel doch naß wird. Dasmal war eines
zu weit hineingeraten, und nun lief das ganze Dorf, aber keiner kam näher,
und neben ihr'sagte einer: Franzi, jetzt banges noch an dir! Sie hatte keinen
Atem mehr, die Füße waren ihr schwer, in unregelmäßigen Absätzen traten sie
auf den Boden. Aber: Jetzt banges noch an dir! hörte sie immer noch und
hob die Füße wieder und taumelte weiter. Es muß gehen, es hangt noch
an mir! Da war sie im Wasser, sie fühlte es kalt an der Kehle — und schlug


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[0152] Sedini das nicht geweckt hat, was alle die Totengebeine aufgeschreckt und zusammen¬ gefügt hat. Und das Weib hat die Hände mit in seinem Schicksal gehabt, das sieht man. Erst hat sie hinter den andern gezögert, dann läuft sie zurück. Der Kopf ist vornübergeworfen gegen die aufgesprungne Gruft, Leidenschaft in jeder Muskel, so schreit sich zu ihm nieder: Willst du uicht aufstehn, Heinrich, der jüngste Tag bricht an! Franzi sah prüfend auf den Entwurf, dann suchte sie die Stellung, erst mit Hüfte und Schenkeln, dann mit der Schulter; sie stemmte sie gegen einen schweren Holzrahmen und bog den Hals nieder, als wollte sie in die Tiefe rufen. Gute Seele! murmelte er wie verloren. Mechanisch hatte er nach der Kohle gegriffen und zeichnete, fast ohne zu atmen. Endlich hielt er an. Wie haben Sie es nur gemacht, daß Sie die Stellung gleich so erwischt haben, wie ich sie brauch? Franzi wand sich behutsam aus ihrer Lage auf. Daheim ist die Keller¬ luke im Boden, sagte sie, und wenn mir die Magd zu lang bei der Milch unten bleibt, schrei ich hinunter. Jetzt hab ich mir halt gedacht, ich ruf nach der Kuni im Keller. — Es macht steif, setzte sie hinzu, und strich mit der rechten Hand am linken Arm herunter, als wenn sie die Muskeln wieder zurecht- streichen wollte. Gute Seele, Gott vergelts! sagte der Schirm, ohne die Kohle weg¬ zulegen. Franzi lachte: Ich soll noch mehr stehn? Aber erst eine Weile rasten! Ruh dich, rud dich! sagte er. Damit legte er den Stift nieder und stäubte die Kohle von den Fingern. Dann sah er nach der Uhr. Jessas, wie spät magh denn sein? rief Franzi. Halb neun! Da muß ich eiligst heim, die Base wird schon schaun, wo ich bleibe. Ja so, die Vase! sagte Sedini. Er sah plötzlich müde aus. Der Glanz und die Begeisterung war aus seinen Augen weg, und als sich die Thür hinter ihr geschlossen hatte, hörte Franzi noch, wie er sich niederwarf, um zu schlafen. 5 Daheim war die Küche ganz mit Sonnenschein erfüllt, und die Base war fort, um einzukaufen. Franzi zog sich aus und legte sich noch ein wenig schlafen in der dunkeln Kammer, aber die Thürspalte schloß sie nicht. So mit dem Blick auf das Sonncngefunkel drüben schlief sie ein. Sie träumte, daheim im Teich sei ein Kind untergegangen, eins von den Flachsköpfen, die immer ihr Kleid aufnehmen bis unters Kinn und mit den kleinen runden Beinen hiuciuwaten, bis der Rockzipfel doch naß wird. Dasmal war eines zu weit hineingeraten, und nun lief das ganze Dorf, aber keiner kam näher, und neben ihr'sagte einer: Franzi, jetzt banges noch an dir! Sie hatte keinen Atem mehr, die Füße waren ihr schwer, in unregelmäßigen Absätzen traten sie auf den Boden. Aber: Jetzt banges noch an dir! hörte sie immer noch und hob die Füße wieder und taumelte weiter. Es muß gehen, es hangt noch an mir! Da war sie im Wasser, sie fühlte es kalt an der Kehle — und schlug

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/152>, abgerufen am 04.05.2024.