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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Behandlung der Verbrecher

urteile abstreift, der keine Svnderinteressen im öffentlichen Wirken hervortreten
läßt, dessen politisches Denken und Wollen von einem echten Gemeinsinn ge¬
leitet wird. Ein hoher Adel, der entartet und die Fühlung mit der Nation
verloren hat, kann seine politischen Standesvorrechte auf die Dauer nicht auf¬
recht erhalten. Ein richtig verstandner Patriotismus, eine wirkliche Zuneigung
zu dem Staate, dessen Schutze er seiue hohe Stellung verdankt, muß ihn be¬
seelen. Daran fehlt es trotz der Neugestaltung des deutschen Reichs noch immer
bei einigen jener Familien, und wir haben oben gesehen, auf welche Ursachen
dieser Mangel zurückzuführen ist. Es bedarf ferner der sorgfältigsten Er¬
ziehung zum öffentlichen Leben. In dieser Richtung liegt der Bildungsgang
der Majoratserben wie der vieler Prinzen aus souveränen Häusern noch häufig
im argen; nur eine Minderheit beschäftigt sich mit ernsten staatswissenschaft¬
licher Studien, die unter den schwierigen sozialen Verhältnissen der Gegenwart
in jenen Kreisen am wenigsten vernachlässigt werden sollten. Der Trieb zur
Mitarbeit an der nationalen Entwicklung kann nicht sicherer geweckt werden
als durch solche Studien, die es ermöglichen, die öffentlichen Zustände mit
freiern Blicken zu betrachten, als es von den herrschenden Klassen oft genug
geschieht. Die Zerfahrenheit unsrer jetzigen politischen Parteien würde es der
vornehmen Aristokratie erleichtern, den Mittelpunkt einer wahrhaft konservativen
Partei zu bilden, einer Partei, die den Staat nicht als ihre Domäne betrachtet,
sondern ernstlich bestrebt ist, bei aller Wahrung der geschichtlichen Grundlagen
des Staatswesens die unabweislichen Forderungen der Gegenwart auf alleu
öffentlichen Gebieten, namentlich auf sozialpolitischen Gebiete richtig zu erkennen
und sie im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit für alle Klassen der Staats¬
angehörigen kräftigst zu unterstützen.




Die Behandlung des Verbrechers
von Wilhelm Speck

in sechsten Hefte war ein Aufsatz über Natur und Behandlung
des Verbrechers enthalten, worin neben vielen feinen und zu¬
treffenden Bemerkungen doch auch einige Sätze standen, die ich
nicht ohne Prüfung vorüberziehen lassen möchte. Zur bessern
Übersicht stelle ich sie hier noch einmal neben einander. Wenn
als Zweck der Strafrechtspflege die Wiederherstellung der verletzten Gerech¬
tigkeit bezeichnet wird, so kann damit zweierlei gemeint sein: die Wiedergut¬
machung des angerichteten Schadens und die Zufügung eines der begangnen


Die Behandlung der Verbrecher

urteile abstreift, der keine Svnderinteressen im öffentlichen Wirken hervortreten
läßt, dessen politisches Denken und Wollen von einem echten Gemeinsinn ge¬
leitet wird. Ein hoher Adel, der entartet und die Fühlung mit der Nation
verloren hat, kann seine politischen Standesvorrechte auf die Dauer nicht auf¬
recht erhalten. Ein richtig verstandner Patriotismus, eine wirkliche Zuneigung
zu dem Staate, dessen Schutze er seiue hohe Stellung verdankt, muß ihn be¬
seelen. Daran fehlt es trotz der Neugestaltung des deutschen Reichs noch immer
bei einigen jener Familien, und wir haben oben gesehen, auf welche Ursachen
dieser Mangel zurückzuführen ist. Es bedarf ferner der sorgfältigsten Er¬
ziehung zum öffentlichen Leben. In dieser Richtung liegt der Bildungsgang
der Majoratserben wie der vieler Prinzen aus souveränen Häusern noch häufig
im argen; nur eine Minderheit beschäftigt sich mit ernsten staatswissenschaft¬
licher Studien, die unter den schwierigen sozialen Verhältnissen der Gegenwart
in jenen Kreisen am wenigsten vernachlässigt werden sollten. Der Trieb zur
Mitarbeit an der nationalen Entwicklung kann nicht sicherer geweckt werden
als durch solche Studien, die es ermöglichen, die öffentlichen Zustände mit
freiern Blicken zu betrachten, als es von den herrschenden Klassen oft genug
geschieht. Die Zerfahrenheit unsrer jetzigen politischen Parteien würde es der
vornehmen Aristokratie erleichtern, den Mittelpunkt einer wahrhaft konservativen
Partei zu bilden, einer Partei, die den Staat nicht als ihre Domäne betrachtet,
sondern ernstlich bestrebt ist, bei aller Wahrung der geschichtlichen Grundlagen
des Staatswesens die unabweislichen Forderungen der Gegenwart auf alleu
öffentlichen Gebieten, namentlich auf sozialpolitischen Gebiete richtig zu erkennen
und sie im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit für alle Klassen der Staats¬
angehörigen kräftigst zu unterstützen.




Die Behandlung des Verbrechers
von Wilhelm Speck

in sechsten Hefte war ein Aufsatz über Natur und Behandlung
des Verbrechers enthalten, worin neben vielen feinen und zu¬
treffenden Bemerkungen doch auch einige Sätze standen, die ich
nicht ohne Prüfung vorüberziehen lassen möchte. Zur bessern
Übersicht stelle ich sie hier noch einmal neben einander. Wenn
als Zweck der Strafrechtspflege die Wiederherstellung der verletzten Gerech¬
tigkeit bezeichnet wird, so kann damit zweierlei gemeint sein: die Wiedergut¬
machung des angerichteten Schadens und die Zufügung eines der begangnen


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[0032] Die Behandlung der Verbrecher urteile abstreift, der keine Svnderinteressen im öffentlichen Wirken hervortreten läßt, dessen politisches Denken und Wollen von einem echten Gemeinsinn ge¬ leitet wird. Ein hoher Adel, der entartet und die Fühlung mit der Nation verloren hat, kann seine politischen Standesvorrechte auf die Dauer nicht auf¬ recht erhalten. Ein richtig verstandner Patriotismus, eine wirkliche Zuneigung zu dem Staate, dessen Schutze er seiue hohe Stellung verdankt, muß ihn be¬ seelen. Daran fehlt es trotz der Neugestaltung des deutschen Reichs noch immer bei einigen jener Familien, und wir haben oben gesehen, auf welche Ursachen dieser Mangel zurückzuführen ist. Es bedarf ferner der sorgfältigsten Er¬ ziehung zum öffentlichen Leben. In dieser Richtung liegt der Bildungsgang der Majoratserben wie der vieler Prinzen aus souveränen Häusern noch häufig im argen; nur eine Minderheit beschäftigt sich mit ernsten staatswissenschaft¬ licher Studien, die unter den schwierigen sozialen Verhältnissen der Gegenwart in jenen Kreisen am wenigsten vernachlässigt werden sollten. Der Trieb zur Mitarbeit an der nationalen Entwicklung kann nicht sicherer geweckt werden als durch solche Studien, die es ermöglichen, die öffentlichen Zustände mit freiern Blicken zu betrachten, als es von den herrschenden Klassen oft genug geschieht. Die Zerfahrenheit unsrer jetzigen politischen Parteien würde es der vornehmen Aristokratie erleichtern, den Mittelpunkt einer wahrhaft konservativen Partei zu bilden, einer Partei, die den Staat nicht als ihre Domäne betrachtet, sondern ernstlich bestrebt ist, bei aller Wahrung der geschichtlichen Grundlagen des Staatswesens die unabweislichen Forderungen der Gegenwart auf alleu öffentlichen Gebieten, namentlich auf sozialpolitischen Gebiete richtig zu erkennen und sie im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit für alle Klassen der Staats¬ angehörigen kräftigst zu unterstützen. Die Behandlung des Verbrechers von Wilhelm Speck in sechsten Hefte war ein Aufsatz über Natur und Behandlung des Verbrechers enthalten, worin neben vielen feinen und zu¬ treffenden Bemerkungen doch auch einige Sätze standen, die ich nicht ohne Prüfung vorüberziehen lassen möchte. Zur bessern Übersicht stelle ich sie hier noch einmal neben einander. Wenn als Zweck der Strafrechtspflege die Wiederherstellung der verletzten Gerech¬ tigkeit bezeichnet wird, so kann damit zweierlei gemeint sein: die Wiedergut¬ machung des angerichteten Schadens und die Zufügung eines der begangnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/32>, abgerufen am 03.05.2024.