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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage

er deutsche Reichstag war anfangs als der Mittelpunkt des neuen
deutschen Reichs gedacht. Mit ihm und durch ihn sollte sich das
Reich immer kräftiger entwickeln und unter Wahrung der Rechte
der regierenden Fürstengeschlechter zu festerer Einheit erstarken.
Heutzutage ist man zu der Überzeugung gelangt, daß diese Hoff¬
nungen verloren gegangen sind und das Ansehen des Reichstags bis an die
Grenze des Erträglichen gesunken ist. Es wäre nicht zweckdienlich, die Sünden
unsers Parlaments, die das verschuldet haben, aufzuzählen, denn es würde
nicht die Kräfte zur Besserung einen, sondern nur neue Zwietracht stiften,
weil der schroffe Parteigeist nie aufhören wird, das für einen Triumph von
Recht und Wahrheit zu halten, was die andre Partei oder auch der größere
Teil der Nation für einen Verstoß gegen die besten Empfindungen der deut¬
schen Volksseele hält. Begnügen wir uns also mit der Thatsache, daß sich
der Reichstag seinen Aufgaben nicht gewachsen gezeigt hat.

Infolgedessen ist die Meinung weit verbreitet, daß unter der Herrschaft
unsers jetzigen Wahlgesetzes die hohe Körperschaft immer tiefer und tiefer sinken
müsse. Ein Teil der bessern Presse beginnt bereits, ganz unverblümt den
Staatsstreich zu empfehlen und will Deutschland durch verfassungswidrigen
Erlaß einer neuen Wahlordnung retten. Aus solchem Umsturzpläuen darf man
nicht etwa auf eine mangelhafte Entwicklung des Rechtsgefühls im deutschen
Volkscharakter schließen. Unsre Verfassungen sind uns noch nicht durch langen
Zeitenlauf geheiligt, und uns fehlt bei unserm frischen Machtgefühl die Geduld,
die Gesundung in langsamer Entwicklung von innen heraus abzuwarten. Wie
die urwüchsige Kraft des soll-rucks-MÄN, mit allem überlebten Hergebrachten
aufzuräumen, ihn häufig verführt, auch das schon für überlebt zu halten, was
sich noch nicht ausgewachsen hat, so ändern wir, die wir nun einmal Empor-


Grenzboten II 1395 gz


Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage

er deutsche Reichstag war anfangs als der Mittelpunkt des neuen
deutschen Reichs gedacht. Mit ihm und durch ihn sollte sich das
Reich immer kräftiger entwickeln und unter Wahrung der Rechte
der regierenden Fürstengeschlechter zu festerer Einheit erstarken.
Heutzutage ist man zu der Überzeugung gelangt, daß diese Hoff¬
nungen verloren gegangen sind und das Ansehen des Reichstags bis an die
Grenze des Erträglichen gesunken ist. Es wäre nicht zweckdienlich, die Sünden
unsers Parlaments, die das verschuldet haben, aufzuzählen, denn es würde
nicht die Kräfte zur Besserung einen, sondern nur neue Zwietracht stiften,
weil der schroffe Parteigeist nie aufhören wird, das für einen Triumph von
Recht und Wahrheit zu halten, was die andre Partei oder auch der größere
Teil der Nation für einen Verstoß gegen die besten Empfindungen der deut¬
schen Volksseele hält. Begnügen wir uns also mit der Thatsache, daß sich
der Reichstag seinen Aufgaben nicht gewachsen gezeigt hat.

Infolgedessen ist die Meinung weit verbreitet, daß unter der Herrschaft
unsers jetzigen Wahlgesetzes die hohe Körperschaft immer tiefer und tiefer sinken
müsse. Ein Teil der bessern Presse beginnt bereits, ganz unverblümt den
Staatsstreich zu empfehlen und will Deutschland durch verfassungswidrigen
Erlaß einer neuen Wahlordnung retten. Aus solchem Umsturzpläuen darf man
nicht etwa auf eine mangelhafte Entwicklung des Rechtsgefühls im deutschen
Volkscharakter schließen. Unsre Verfassungen sind uns noch nicht durch langen
Zeitenlauf geheiligt, und uns fehlt bei unserm frischen Machtgefühl die Geduld,
die Gesundung in langsamer Entwicklung von innen heraus abzuwarten. Wie
die urwüchsige Kraft des soll-rucks-MÄN, mit allem überlebten Hergebrachten
aufzuräumen, ihn häufig verführt, auch das schon für überlebt zu halten, was
sich noch nicht ausgewachsen hat, so ändern wir, die wir nun einmal Empor-


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[0497] [Abbildung] Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage er deutsche Reichstag war anfangs als der Mittelpunkt des neuen deutschen Reichs gedacht. Mit ihm und durch ihn sollte sich das Reich immer kräftiger entwickeln und unter Wahrung der Rechte der regierenden Fürstengeschlechter zu festerer Einheit erstarken. Heutzutage ist man zu der Überzeugung gelangt, daß diese Hoff¬ nungen verloren gegangen sind und das Ansehen des Reichstags bis an die Grenze des Erträglichen gesunken ist. Es wäre nicht zweckdienlich, die Sünden unsers Parlaments, die das verschuldet haben, aufzuzählen, denn es würde nicht die Kräfte zur Besserung einen, sondern nur neue Zwietracht stiften, weil der schroffe Parteigeist nie aufhören wird, das für einen Triumph von Recht und Wahrheit zu halten, was die andre Partei oder auch der größere Teil der Nation für einen Verstoß gegen die besten Empfindungen der deut¬ schen Volksseele hält. Begnügen wir uns also mit der Thatsache, daß sich der Reichstag seinen Aufgaben nicht gewachsen gezeigt hat. Infolgedessen ist die Meinung weit verbreitet, daß unter der Herrschaft unsers jetzigen Wahlgesetzes die hohe Körperschaft immer tiefer und tiefer sinken müsse. Ein Teil der bessern Presse beginnt bereits, ganz unverblümt den Staatsstreich zu empfehlen und will Deutschland durch verfassungswidrigen Erlaß einer neuen Wahlordnung retten. Aus solchem Umsturzpläuen darf man nicht etwa auf eine mangelhafte Entwicklung des Rechtsgefühls im deutschen Volkscharakter schließen. Unsre Verfassungen sind uns noch nicht durch langen Zeitenlauf geheiligt, und uns fehlt bei unserm frischen Machtgefühl die Geduld, die Gesundung in langsamer Entwicklung von innen heraus abzuwarten. Wie die urwüchsige Kraft des soll-rucks-MÄN, mit allem überlebten Hergebrachten aufzuräumen, ihn häufig verführt, auch das schon für überlebt zu halten, was sich noch nicht ausgewachsen hat, so ändern wir, die wir nun einmal Empor- Grenzboten II 1395 gz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/497>, abgerufen am 04.05.2024.