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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

Strafsenate der Oberlandesgerichte enthalten sehr schätzbares Material. Daß der
letzte Satz des Buches mit einem grammatischen Fehler schließt, macht sich nicht
hübsch.

Mein Wien, Lieder und Gedichte von Albrecht Graf Wickenburg.
Wien, C. Gerolds Sohn

Wenn die "Modernen" ihre besten Namen nennen (wozu sie immer bereit
sind), werden sie den Grafen Wickenburg schwerlich mitueunen. Er ist -- was
ihm allein schon die Sympathien rauben muß -- ein schlichter, bescheidner Mann,
hat sich lange Zeit freiwillig neben seiner Gattin in den Hintergrund gestellt, und
welche Stoffe wählt er jetzt! "Tiroler Helden," wie unmodern, in der Zeit des
Internationalismus uoch die Tiroler und Tirolerinnen, Bauern und Bnuernwirte
zu besingen, die beschränkt genug waren, sich ein Dutzend Jahre lang gegen fran¬
zösische und bnirische Freiheit zu wehren! Dafür geht das Büchlein in Tirol Von
Hand zu Hand, und die kräftigen volkstümlichen Weisen schüren nen den Stolz
auf das Lcmdel, das die Hofer und Speckbacher, Haspiuger, Eisenstecken, die Spar¬
taner von Gries u. s. w geboren hat, und das, wie sich 1843 und 1366 zeigte, das
alte geblieben ist.

Einen ganz andern Ton schlägt der Dichter in dem neuen Hefte an. Seine
meisten Leser werden durch den echte" Humor in diesen Gedichten aus Wien über¬
rascht sein. Aus jeder Strophe spricht uns die herzliche Freude an, er liebt "sein
Wien" mit Art und Unart; allein er verdreht nicht verzückt die Augen dabei, wie
manche dort und anderswo glaubten thun zu müssen, damit ihr Patriotismus für
voll genommen werde. Ihm geht das Herz auf, wenn er an die Stadt denkt,
in der Kant "ihn sicher nicht geboren, den kategorischen Imperativ," deren Be¬
wohnern aber "die Lebenskunst, die schwierigste von allen, als Talent in den
Schoß gefallen" ist, wenn er des "alten Steffel" ansichtig wird, im "wilden
Prater" und im Wiener Walde von vergangnen Tagen träumt. Das ist alles so
warm empfunden, daß auch, wer Wien nur als Gast kennen und lieben gelernt
hat, seine Frende daran haben muß. Und nun die typischen Gestalten, die Fiaker,
Deutschmeister, Kappelbubeu, Fratschleriunen, Schusterbuben, Wäschermädel u. s. w,!
Da ist alles Humor, der bekanntlich die Schwächen seiner Lieblinge nicht leugnet,
aber ihnen die komischen und gemütlichen Seiten abzugewinnen weiß. Hier sei
nur die köstliche Schilderung des "Komfortabel, Ding, das gegen seinen eignen
Namen spricht," und des Nvsselenkers erwähnt, der einem Gaste, der kein Trink¬
geld geben will, zuruft:


Wenn Sö nit a G'lnmpet wären,
Fahreteils mit Unser-An?

Und die Moral zu dieser wahren Geschichte lautet:


Mit sich selbst so grob zu werden,
Nein, das trifft der Wiener nur!

Es ist doch hübsch, daß ein Dichter unsrer Zeit noch Augen für andres hat als
Elend, Liederlichkeit und Verbrechen.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

Strafsenate der Oberlandesgerichte enthalten sehr schätzbares Material. Daß der
letzte Satz des Buches mit einem grammatischen Fehler schließt, macht sich nicht
hübsch.

Mein Wien, Lieder und Gedichte von Albrecht Graf Wickenburg.
Wien, C. Gerolds Sohn

Wenn die „Modernen" ihre besten Namen nennen (wozu sie immer bereit
sind), werden sie den Grafen Wickenburg schwerlich mitueunen. Er ist — was
ihm allein schon die Sympathien rauben muß — ein schlichter, bescheidner Mann,
hat sich lange Zeit freiwillig neben seiner Gattin in den Hintergrund gestellt, und
welche Stoffe wählt er jetzt! „Tiroler Helden," wie unmodern, in der Zeit des
Internationalismus uoch die Tiroler und Tirolerinnen, Bauern und Bnuernwirte
zu besingen, die beschränkt genug waren, sich ein Dutzend Jahre lang gegen fran¬
zösische und bnirische Freiheit zu wehren! Dafür geht das Büchlein in Tirol Von
Hand zu Hand, und die kräftigen volkstümlichen Weisen schüren nen den Stolz
auf das Lcmdel, das die Hofer und Speckbacher, Haspiuger, Eisenstecken, die Spar¬
taner von Gries u. s. w geboren hat, und das, wie sich 1843 und 1366 zeigte, das
alte geblieben ist.

Einen ganz andern Ton schlägt der Dichter in dem neuen Hefte an. Seine
meisten Leser werden durch den echte» Humor in diesen Gedichten aus Wien über¬
rascht sein. Aus jeder Strophe spricht uns die herzliche Freude an, er liebt „sein
Wien" mit Art und Unart; allein er verdreht nicht verzückt die Augen dabei, wie
manche dort und anderswo glaubten thun zu müssen, damit ihr Patriotismus für
voll genommen werde. Ihm geht das Herz auf, wenn er an die Stadt denkt,
in der Kant „ihn sicher nicht geboren, den kategorischen Imperativ," deren Be¬
wohnern aber „die Lebenskunst, die schwierigste von allen, als Talent in den
Schoß gefallen" ist, wenn er des „alten Steffel" ansichtig wird, im „wilden
Prater" und im Wiener Walde von vergangnen Tagen träumt. Das ist alles so
warm empfunden, daß auch, wer Wien nur als Gast kennen und lieben gelernt
hat, seine Frende daran haben muß. Und nun die typischen Gestalten, die Fiaker,
Deutschmeister, Kappelbubeu, Fratschleriunen, Schusterbuben, Wäschermädel u. s. w,!
Da ist alles Humor, der bekanntlich die Schwächen seiner Lieblinge nicht leugnet,
aber ihnen die komischen und gemütlichen Seiten abzugewinnen weiß. Hier sei
nur die köstliche Schilderung des „Komfortabel, Ding, das gegen seinen eignen
Namen spricht," und des Nvsselenkers erwähnt, der einem Gaste, der kein Trink¬
geld geben will, zuruft:


Wenn Sö nit a G'lnmpet wären,
Fahreteils mit Unser-An?

Und die Moral zu dieser wahren Geschichte lautet:


Mit sich selbst so grob zu werden,
Nein, das trifft der Wiener nur!

Es ist doch hübsch, daß ein Dichter unsrer Zeit noch Augen für andres hat als
Elend, Liederlichkeit und Verbrechen.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0064] Litteratur Strafsenate der Oberlandesgerichte enthalten sehr schätzbares Material. Daß der letzte Satz des Buches mit einem grammatischen Fehler schließt, macht sich nicht hübsch. Mein Wien, Lieder und Gedichte von Albrecht Graf Wickenburg. Wien, C. Gerolds Sohn Wenn die „Modernen" ihre besten Namen nennen (wozu sie immer bereit sind), werden sie den Grafen Wickenburg schwerlich mitueunen. Er ist — was ihm allein schon die Sympathien rauben muß — ein schlichter, bescheidner Mann, hat sich lange Zeit freiwillig neben seiner Gattin in den Hintergrund gestellt, und welche Stoffe wählt er jetzt! „Tiroler Helden," wie unmodern, in der Zeit des Internationalismus uoch die Tiroler und Tirolerinnen, Bauern und Bnuernwirte zu besingen, die beschränkt genug waren, sich ein Dutzend Jahre lang gegen fran¬ zösische und bnirische Freiheit zu wehren! Dafür geht das Büchlein in Tirol Von Hand zu Hand, und die kräftigen volkstümlichen Weisen schüren nen den Stolz auf das Lcmdel, das die Hofer und Speckbacher, Haspiuger, Eisenstecken, die Spar¬ taner von Gries u. s. w geboren hat, und das, wie sich 1843 und 1366 zeigte, das alte geblieben ist. Einen ganz andern Ton schlägt der Dichter in dem neuen Hefte an. Seine meisten Leser werden durch den echte» Humor in diesen Gedichten aus Wien über¬ rascht sein. Aus jeder Strophe spricht uns die herzliche Freude an, er liebt „sein Wien" mit Art und Unart; allein er verdreht nicht verzückt die Augen dabei, wie manche dort und anderswo glaubten thun zu müssen, damit ihr Patriotismus für voll genommen werde. Ihm geht das Herz auf, wenn er an die Stadt denkt, in der Kant „ihn sicher nicht geboren, den kategorischen Imperativ," deren Be¬ wohnern aber „die Lebenskunst, die schwierigste von allen, als Talent in den Schoß gefallen" ist, wenn er des „alten Steffel" ansichtig wird, im „wilden Prater" und im Wiener Walde von vergangnen Tagen träumt. Das ist alles so warm empfunden, daß auch, wer Wien nur als Gast kennen und lieben gelernt hat, seine Frende daran haben muß. Und nun die typischen Gestalten, die Fiaker, Deutschmeister, Kappelbubeu, Fratschleriunen, Schusterbuben, Wäschermädel u. s. w,! Da ist alles Humor, der bekanntlich die Schwächen seiner Lieblinge nicht leugnet, aber ihnen die komischen und gemütlichen Seiten abzugewinnen weiß. Hier sei nur die köstliche Schilderung des „Komfortabel, Ding, das gegen seinen eignen Namen spricht," und des Nvsselenkers erwähnt, der einem Gaste, der kein Trink¬ geld geben will, zuruft: Wenn Sö nit a G'lnmpet wären, Fahreteils mit Unser-An? Und die Moral zu dieser wahren Geschichte lautet: Mit sich selbst so grob zu werden, Nein, das trifft der Wiener nur! Es ist doch hübsch, daß ein Dichter unsrer Zeit noch Augen für andres hat als Elend, Liederlichkeit und Verbrechen. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/64>, abgerufen am 03.05.2024.