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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der Zug nach dem Osten

eit Beginn des Mittelalters hatte die Wanderung der Völker
die Richtung nach dem Westen eingeschlagen. Um die Wende
des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung fand eine rück¬
läufige Bewegung statt. Die germanischen Völkerschaften, be¬
engt in ihren Wohnsitzen, verdrängten die benachbarten slawischen
Stämme. Im Anschluß an die Kreuzzüge wurde die Bekehrung zum Christen¬
tum vielfach der leitende Beweggrund: der deutsche Orden chüele die Bahnen
nach Osten bis an die Ostgrenzen des jetzigen deutschen Reichs und weiter
hinaus bis zum finnischen Meerbusen und zur Narowa.

In unserm Jahrhundert hat die Übervölkerung Westeuropas eine stetige
Auswanderung nach der westlichen Halbkugel veranlaßt. Die günstigsten Be¬
dingungen für die germanischen Stämme boten die Vereinigten Staaten Nord¬
amerikas. Aber abgesehen davon, daß in letzter Zeit durch den mächtigen Ein¬
wanderungsstrom aus den verschiedensten Ländern die Gelegenheit zum Erwerb
ertragreichen Bodens sehr verringert ist und die Eingebornen eine feindselige
Stellung gegenüber der Einwanderung einnehmen, wird in Deutschland immer
mehr erkannt, daß die Millionen Deutscher, die dorthin ausgewandert sind,
dem Mutterlande entfremdet werden, daß dagegen die Bildung eines Kolonial¬
staats mit germanischem Charakter ein dringendes Bedürfnis ist.

In Neuholland nehmen die zahlreichen Deutschen keine andre Stellung
ein als in Nordamerika. Die in neuester Zeit von Deutschland gegründeten
Kolonien in Ost- und Westafrika, in Neuguinea, gestatten wegen der klima¬
tischen Verhältniße keine Auswanderung im großen Stil.

Alle diese Umstände weisen darauf hin, den Nachteilen der Übervölkerung
Abhilfe zu schaffen, indem der Strom der Auswanderung in Gegenden gelenkt


Ärenzboten III 1895 38


Der Zug nach dem Osten

eit Beginn des Mittelalters hatte die Wanderung der Völker
die Richtung nach dem Westen eingeschlagen. Um die Wende
des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung fand eine rück¬
läufige Bewegung statt. Die germanischen Völkerschaften, be¬
engt in ihren Wohnsitzen, verdrängten die benachbarten slawischen
Stämme. Im Anschluß an die Kreuzzüge wurde die Bekehrung zum Christen¬
tum vielfach der leitende Beweggrund: der deutsche Orden chüele die Bahnen
nach Osten bis an die Ostgrenzen des jetzigen deutschen Reichs und weiter
hinaus bis zum finnischen Meerbusen und zur Narowa.

In unserm Jahrhundert hat die Übervölkerung Westeuropas eine stetige
Auswanderung nach der westlichen Halbkugel veranlaßt. Die günstigsten Be¬
dingungen für die germanischen Stämme boten die Vereinigten Staaten Nord¬
amerikas. Aber abgesehen davon, daß in letzter Zeit durch den mächtigen Ein¬
wanderungsstrom aus den verschiedensten Ländern die Gelegenheit zum Erwerb
ertragreichen Bodens sehr verringert ist und die Eingebornen eine feindselige
Stellung gegenüber der Einwanderung einnehmen, wird in Deutschland immer
mehr erkannt, daß die Millionen Deutscher, die dorthin ausgewandert sind,
dem Mutterlande entfremdet werden, daß dagegen die Bildung eines Kolonial¬
staats mit germanischem Charakter ein dringendes Bedürfnis ist.

In Neuholland nehmen die zahlreichen Deutschen keine andre Stellung
ein als in Nordamerika. Die in neuester Zeit von Deutschland gegründeten
Kolonien in Ost- und Westafrika, in Neuguinea, gestatten wegen der klima¬
tischen Verhältniße keine Auswanderung im großen Stil.

Alle diese Umstände weisen darauf hin, den Nachteilen der Übervölkerung
Abhilfe zu schaffen, indem der Strom der Auswanderung in Gegenden gelenkt


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[0305] [Abbildung] Der Zug nach dem Osten eit Beginn des Mittelalters hatte die Wanderung der Völker die Richtung nach dem Westen eingeschlagen. Um die Wende des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung fand eine rück¬ läufige Bewegung statt. Die germanischen Völkerschaften, be¬ engt in ihren Wohnsitzen, verdrängten die benachbarten slawischen Stämme. Im Anschluß an die Kreuzzüge wurde die Bekehrung zum Christen¬ tum vielfach der leitende Beweggrund: der deutsche Orden chüele die Bahnen nach Osten bis an die Ostgrenzen des jetzigen deutschen Reichs und weiter hinaus bis zum finnischen Meerbusen und zur Narowa. In unserm Jahrhundert hat die Übervölkerung Westeuropas eine stetige Auswanderung nach der westlichen Halbkugel veranlaßt. Die günstigsten Be¬ dingungen für die germanischen Stämme boten die Vereinigten Staaten Nord¬ amerikas. Aber abgesehen davon, daß in letzter Zeit durch den mächtigen Ein¬ wanderungsstrom aus den verschiedensten Ländern die Gelegenheit zum Erwerb ertragreichen Bodens sehr verringert ist und die Eingebornen eine feindselige Stellung gegenüber der Einwanderung einnehmen, wird in Deutschland immer mehr erkannt, daß die Millionen Deutscher, die dorthin ausgewandert sind, dem Mutterlande entfremdet werden, daß dagegen die Bildung eines Kolonial¬ staats mit germanischem Charakter ein dringendes Bedürfnis ist. In Neuholland nehmen die zahlreichen Deutschen keine andre Stellung ein als in Nordamerika. Die in neuester Zeit von Deutschland gegründeten Kolonien in Ost- und Westafrika, in Neuguinea, gestatten wegen der klima¬ tischen Verhältniße keine Auswanderung im großen Stil. Alle diese Umstände weisen darauf hin, den Nachteilen der Übervölkerung Abhilfe zu schaffen, indem der Strom der Auswanderung in Gegenden gelenkt Ärenzboten III 1895 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/305>, abgerufen am 27.04.2024.