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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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der dramatischen Theorien ganz unzweifelhaft einen hervorragenden Platz ein¬
zunehmen hat; außerdem will ich nur die Aufsätze über den Briefwechsel zwischen
Schiller und Körner und über Shakespeares Zeitgenossen hervorheben. Wenn
man einmal auf unsern höhern Schulen das Bedürfnis fühlen sollte, die Lek¬
türe ausgewählter Stücke aus dem Laokoon und der Hamburgischen Drama¬
turgie teilweise durch etwas mehr Zeitgemäßes zu ersetzen, so wird man viel¬
leicht bei Hebbel und Ludwig geeignetes finden; denn selbstverständlich enthalten
auch Ludwigs Studien eine Anzahl durchaus vollendeter Partien. Ein mit
dem Geist der Gegenwart vertrauter Schulmann könnte schon jetzt eine Aus¬
wahl geben. Doch hat zunächst noch die deutsche Dichterjugend so viel von
den beiden großen Dramatikern zu lernen, daß die Aufnahme der ästhetischen
Anschauungen Hebbels und Ludwigs in die allgemeine deutsche Bildung nicht
ohne weiteres wünschenswert erscheint.




Die Zunge
Line Hundstagsbetrachtling

ut und böse sollten eigentlich Gegensätze sein. Aber das ist
thatsächlich nicht immer der Fall. Wenn man z. B. von jemand
sagt, er habe eine gute Zunge, so heißt das beinahe so viel, als er
habe eine böse Zunge, besonders wenn dieser Jemand ein weibliches
Wesen in einem gewissen Alter ist. Denn man nimmt meist an,
daß die Zunge nur dann in eine außergewöhnliche Thätigkeit gesetzt wird,
wenn man dem lieben Nächsten etwas anhängen will. Hat man dagegen
etwas Gutes von ihm zu berichten, was ziemlich selten vorkommen soll, so braucht
man dazu gar keine gute Zunge; ein gründliches Lob bringt auch der heraus,
der des Wortes weniger mächtig ist. Ein gestammeltes Lob klingt jedenfalls
angenehmer als der schlag- und zungenfertigste Tadel. Wenn ich jemandem
zwanzig Mark abbvrge" will, und der andre sagt ohne jeglichen fein kon-
struirten Satzbau, ohne Metaphern und Rhetorik: Die kannst du kriegen! so
klingen diese einfachen Worte wie ein Gedicht. Setzt er sich aber mit einem
liebenswürdigen Gesicht in Positur und hält mir eine Ansprache, die jeder
Ordinarius von Prima mit einer 1 zensiren würde, aus der ich aber trotz
des fließendsten Deutsch heraushöre, daß ich die zwanzig Mark nicht bekomme,
so sind das für mich faule Redensarten. Kein Redner der Welt ist imstande,
uns ein "Nein" wohlklingend zu machen. Das schönste Mädchen, das klügste


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der dramatischen Theorien ganz unzweifelhaft einen hervorragenden Platz ein¬
zunehmen hat; außerdem will ich nur die Aufsätze über den Briefwechsel zwischen
Schiller und Körner und über Shakespeares Zeitgenossen hervorheben. Wenn
man einmal auf unsern höhern Schulen das Bedürfnis fühlen sollte, die Lek¬
türe ausgewählter Stücke aus dem Laokoon und der Hamburgischen Drama¬
turgie teilweise durch etwas mehr Zeitgemäßes zu ersetzen, so wird man viel¬
leicht bei Hebbel und Ludwig geeignetes finden; denn selbstverständlich enthalten
auch Ludwigs Studien eine Anzahl durchaus vollendeter Partien. Ein mit
dem Geist der Gegenwart vertrauter Schulmann könnte schon jetzt eine Aus¬
wahl geben. Doch hat zunächst noch die deutsche Dichterjugend so viel von
den beiden großen Dramatikern zu lernen, daß die Aufnahme der ästhetischen
Anschauungen Hebbels und Ludwigs in die allgemeine deutsche Bildung nicht
ohne weiteres wünschenswert erscheint.




Die Zunge
Line Hundstagsbetrachtling

ut und böse sollten eigentlich Gegensätze sein. Aber das ist
thatsächlich nicht immer der Fall. Wenn man z. B. von jemand
sagt, er habe eine gute Zunge, so heißt das beinahe so viel, als er
habe eine böse Zunge, besonders wenn dieser Jemand ein weibliches
Wesen in einem gewissen Alter ist. Denn man nimmt meist an,
daß die Zunge nur dann in eine außergewöhnliche Thätigkeit gesetzt wird,
wenn man dem lieben Nächsten etwas anhängen will. Hat man dagegen
etwas Gutes von ihm zu berichten, was ziemlich selten vorkommen soll, so braucht
man dazu gar keine gute Zunge; ein gründliches Lob bringt auch der heraus,
der des Wortes weniger mächtig ist. Ein gestammeltes Lob klingt jedenfalls
angenehmer als der schlag- und zungenfertigste Tadel. Wenn ich jemandem
zwanzig Mark abbvrge» will, und der andre sagt ohne jeglichen fein kon-
struirten Satzbau, ohne Metaphern und Rhetorik: Die kannst du kriegen! so
klingen diese einfachen Worte wie ein Gedicht. Setzt er sich aber mit einem
liebenswürdigen Gesicht in Positur und hält mir eine Ansprache, die jeder
Ordinarius von Prima mit einer 1 zensiren würde, aus der ich aber trotz
des fließendsten Deutsch heraushöre, daß ich die zwanzig Mark nicht bekomme,
so sind das für mich faule Redensarten. Kein Redner der Welt ist imstande,
uns ein „Nein" wohlklingend zu machen. Das schönste Mädchen, das klügste


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[0392] Die Zunge der dramatischen Theorien ganz unzweifelhaft einen hervorragenden Platz ein¬ zunehmen hat; außerdem will ich nur die Aufsätze über den Briefwechsel zwischen Schiller und Körner und über Shakespeares Zeitgenossen hervorheben. Wenn man einmal auf unsern höhern Schulen das Bedürfnis fühlen sollte, die Lek¬ türe ausgewählter Stücke aus dem Laokoon und der Hamburgischen Drama¬ turgie teilweise durch etwas mehr Zeitgemäßes zu ersetzen, so wird man viel¬ leicht bei Hebbel und Ludwig geeignetes finden; denn selbstverständlich enthalten auch Ludwigs Studien eine Anzahl durchaus vollendeter Partien. Ein mit dem Geist der Gegenwart vertrauter Schulmann könnte schon jetzt eine Aus¬ wahl geben. Doch hat zunächst noch die deutsche Dichterjugend so viel von den beiden großen Dramatikern zu lernen, daß die Aufnahme der ästhetischen Anschauungen Hebbels und Ludwigs in die allgemeine deutsche Bildung nicht ohne weiteres wünschenswert erscheint. Die Zunge Line Hundstagsbetrachtling ut und böse sollten eigentlich Gegensätze sein. Aber das ist thatsächlich nicht immer der Fall. Wenn man z. B. von jemand sagt, er habe eine gute Zunge, so heißt das beinahe so viel, als er habe eine böse Zunge, besonders wenn dieser Jemand ein weibliches Wesen in einem gewissen Alter ist. Denn man nimmt meist an, daß die Zunge nur dann in eine außergewöhnliche Thätigkeit gesetzt wird, wenn man dem lieben Nächsten etwas anhängen will. Hat man dagegen etwas Gutes von ihm zu berichten, was ziemlich selten vorkommen soll, so braucht man dazu gar keine gute Zunge; ein gründliches Lob bringt auch der heraus, der des Wortes weniger mächtig ist. Ein gestammeltes Lob klingt jedenfalls angenehmer als der schlag- und zungenfertigste Tadel. Wenn ich jemandem zwanzig Mark abbvrge» will, und der andre sagt ohne jeglichen fein kon- struirten Satzbau, ohne Metaphern und Rhetorik: Die kannst du kriegen! so klingen diese einfachen Worte wie ein Gedicht. Setzt er sich aber mit einem liebenswürdigen Gesicht in Positur und hält mir eine Ansprache, die jeder Ordinarius von Prima mit einer 1 zensiren würde, aus der ich aber trotz des fließendsten Deutsch heraushöre, daß ich die zwanzig Mark nicht bekomme, so sind das für mich faule Redensarten. Kein Redner der Welt ist imstande, uns ein „Nein" wohlklingend zu machen. Das schönste Mädchen, das klügste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/392>, abgerufen am 27.04.2024.