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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Kirche und schule

nsre Volksschule ist eine Tochter der evangelischen Kirche. Dieser
Satz ist zwar richtig, wird aber von den Volksschnllehrern aufs
entschiedenste bekämpft, weil er ihre Wünsche und Ansprüche be¬
droht. Man hält ihm entgegen, daß es auch vor der Refor¬
mation schon Schulen gegeben habe, und Herr Konrad Fischer
geht in seiner Geschichte des deutschen Volksschullehrerstandes*) von den Schulen
bei den Ägyptern, Juden und Germanen (svlwlg.6 sub ousreu!) aus, doch wohl
in dem Sinne, daß die Lehrer an diesen Schulen die Vorläufer der deutschen
Volksschullehrer gewesen seien; er weist ferner mit besonderm Nachdruck auf
die Kloster-, Stifts- und Stadtschulen hin, die ja lange vor der Reformation
entstanden sind, obwohl alle Schulen vor der Reformation, auch die soge¬
nannten Winkelschulen, Fachschulen waren und nur das Wissen, das für einen
besondern Stand (Gelehrtenstand, Kaufmannsstand) notwendig war, vermitteln
wollten. Gerade den Kloster-, Stifts- und Stadtschulen, die die Vorläufer
der heutigen Gymnasien sind (wie die Thomas- und die Nikolaischule in Leipzig,
die Kreuzschule in Dresden, die Fürstenschuleu in Grimma, Meißen und Pforte)
und sich dazu in gerader Linie weiter entwickelt haben, fehlt das für die Volks¬
schule charakteristische Streben, dem ganzen Volke eine gewisse Summe von
Kenntnissen (im Lesen, Schreiben und Rechnen) beizubringen.

Wenn man nun einerseits der Kirche vor der Reformation kein geschicht¬
liches Recht auf die Volksschule einräume" will, so schlüge man damit offne
Thüren ein, denn kein verständiger Mensch wird dieses Recht beanspruchen.
Andrerseits thut man aber auch der vorreformatorischen Kirche Unrecht, wenn
man ihr vorwirft, was hie und da auch geschieht, sie Hütte die auf die Ein¬
richtung der Volksschule gerichteten Bestrebungen bekämpft, indem sie z. B. das
Aufkommen der Stadtschulen zu verhindern gesucht oder wenigstens diese Be¬
strebungen nicht mit ihrer Macht, ihren Mitteln, ihrem Ausehen unterstützt
habe. Ganz abgesehen davon, daß es sich vor der Reformation überhaupt
nicht um die Volksschule gehandelt hat, der katholischen Kirche konnte weder



*) Geschichte des deutschen Volksschullehrerstcmdcs von Konrad Fischer, Seminarlehrer.
Zwei Bünde, Hannover, Carl Meyer (Gustav Prior), 1892.


Kirche und schule

nsre Volksschule ist eine Tochter der evangelischen Kirche. Dieser
Satz ist zwar richtig, wird aber von den Volksschnllehrern aufs
entschiedenste bekämpft, weil er ihre Wünsche und Ansprüche be¬
droht. Man hält ihm entgegen, daß es auch vor der Refor¬
mation schon Schulen gegeben habe, und Herr Konrad Fischer
geht in seiner Geschichte des deutschen Volksschullehrerstandes*) von den Schulen
bei den Ägyptern, Juden und Germanen (svlwlg.6 sub ousreu!) aus, doch wohl
in dem Sinne, daß die Lehrer an diesen Schulen die Vorläufer der deutschen
Volksschullehrer gewesen seien; er weist ferner mit besonderm Nachdruck auf
die Kloster-, Stifts- und Stadtschulen hin, die ja lange vor der Reformation
entstanden sind, obwohl alle Schulen vor der Reformation, auch die soge¬
nannten Winkelschulen, Fachschulen waren und nur das Wissen, das für einen
besondern Stand (Gelehrtenstand, Kaufmannsstand) notwendig war, vermitteln
wollten. Gerade den Kloster-, Stifts- und Stadtschulen, die die Vorläufer
der heutigen Gymnasien sind (wie die Thomas- und die Nikolaischule in Leipzig,
die Kreuzschule in Dresden, die Fürstenschuleu in Grimma, Meißen und Pforte)
und sich dazu in gerader Linie weiter entwickelt haben, fehlt das für die Volks¬
schule charakteristische Streben, dem ganzen Volke eine gewisse Summe von
Kenntnissen (im Lesen, Schreiben und Rechnen) beizubringen.

Wenn man nun einerseits der Kirche vor der Reformation kein geschicht¬
liches Recht auf die Volksschule einräume» will, so schlüge man damit offne
Thüren ein, denn kein verständiger Mensch wird dieses Recht beanspruchen.
Andrerseits thut man aber auch der vorreformatorischen Kirche Unrecht, wenn
man ihr vorwirft, was hie und da auch geschieht, sie Hütte die auf die Ein¬
richtung der Volksschule gerichteten Bestrebungen bekämpft, indem sie z. B. das
Aufkommen der Stadtschulen zu verhindern gesucht oder wenigstens diese Be¬
strebungen nicht mit ihrer Macht, ihren Mitteln, ihrem Ausehen unterstützt
habe. Ganz abgesehen davon, daß es sich vor der Reformation überhaupt
nicht um die Volksschule gehandelt hat, der katholischen Kirche konnte weder



*) Geschichte des deutschen Volksschullehrerstcmdcs von Konrad Fischer, Seminarlehrer.
Zwei Bünde, Hannover, Carl Meyer (Gustav Prior), 1892.
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[0458] [Abbildung] Kirche und schule nsre Volksschule ist eine Tochter der evangelischen Kirche. Dieser Satz ist zwar richtig, wird aber von den Volksschnllehrern aufs entschiedenste bekämpft, weil er ihre Wünsche und Ansprüche be¬ droht. Man hält ihm entgegen, daß es auch vor der Refor¬ mation schon Schulen gegeben habe, und Herr Konrad Fischer geht in seiner Geschichte des deutschen Volksschullehrerstandes*) von den Schulen bei den Ägyptern, Juden und Germanen (svlwlg.6 sub ousreu!) aus, doch wohl in dem Sinne, daß die Lehrer an diesen Schulen die Vorläufer der deutschen Volksschullehrer gewesen seien; er weist ferner mit besonderm Nachdruck auf die Kloster-, Stifts- und Stadtschulen hin, die ja lange vor der Reformation entstanden sind, obwohl alle Schulen vor der Reformation, auch die soge¬ nannten Winkelschulen, Fachschulen waren und nur das Wissen, das für einen besondern Stand (Gelehrtenstand, Kaufmannsstand) notwendig war, vermitteln wollten. Gerade den Kloster-, Stifts- und Stadtschulen, die die Vorläufer der heutigen Gymnasien sind (wie die Thomas- und die Nikolaischule in Leipzig, die Kreuzschule in Dresden, die Fürstenschuleu in Grimma, Meißen und Pforte) und sich dazu in gerader Linie weiter entwickelt haben, fehlt das für die Volks¬ schule charakteristische Streben, dem ganzen Volke eine gewisse Summe von Kenntnissen (im Lesen, Schreiben und Rechnen) beizubringen. Wenn man nun einerseits der Kirche vor der Reformation kein geschicht¬ liches Recht auf die Volksschule einräume» will, so schlüge man damit offne Thüren ein, denn kein verständiger Mensch wird dieses Recht beanspruchen. Andrerseits thut man aber auch der vorreformatorischen Kirche Unrecht, wenn man ihr vorwirft, was hie und da auch geschieht, sie Hütte die auf die Ein¬ richtung der Volksschule gerichteten Bestrebungen bekämpft, indem sie z. B. das Aufkommen der Stadtschulen zu verhindern gesucht oder wenigstens diese Be¬ strebungen nicht mit ihrer Macht, ihren Mitteln, ihrem Ausehen unterstützt habe. Ganz abgesehen davon, daß es sich vor der Reformation überhaupt nicht um die Volksschule gehandelt hat, der katholischen Kirche konnte weder *) Geschichte des deutschen Volksschullehrerstcmdcs von Konrad Fischer, Seminarlehrer. Zwei Bünde, Hannover, Carl Meyer (Gustav Prior), 1892.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/458>, abgerufen am 27.04.2024.