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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen lveltpolitik

Man darf nicht übersehen, daß eine große Schwäche der englischen Stellung
in Indien in allen geistigen Dingen offenkundig ist. An dem Mißerfolg der
christlichen Missionen ist nicht zu zweifeln. Es wäre besser, wenn es anders
darum stünde. Aber die bekehrten Jndier genießen im allgemeinen kein großes
Vertrauen. Im Verhältnis zu dem Alter der Missionsthütigkeit in Indien ist
der Betrag von ^/g Prozent Christen in der ganzen Bevölkerung verschwindend
gering. Ihre Mehrzahl lebt in den untern Schichten. Die Spitzen der ein-
gebornen Gesellschaft sind 208 Millionen Brahmagläubige, 57 Millionen Mo¬
hammedaner, dann Buddhisten und Parsen. Diese dringen also in die Ver¬
tretungen ein und besetzen die Beamtenstellen. Nun spielen die Religions¬
bekenntnisse in Indien eine ganz andre Rolle als bei uns. Die Religions¬
gemeinschaft ist Staat, Gesellschaft und -- Zukunft. Darin liegt die Schwäche
und Stärke Indiens.


3

Wie die Eroberung Indiens eigentlich keine Eroberung, sondern vielmehr
eine Reihe von innern Umwälzungen war, die von den Europäern geleitet,
aber fast ganz von Eingebornen gemacht wurden, so ist auch die Erhaltung
der englischen Herrschaft in Indien nur möglich, weil es kein indisches Volk
im europäischen Sinne giebt, sondern Hunderte von Stämmen, Familien-
stümmen (Klaus), Kasten, Glaubensgenossenschaften u. dergl., die von Indien
so wenig wissen, daß der politische Begriff Indien ebenso von außen herein¬
getragen ist wie der Name, den keine indische Sprache kennt. England hat
in Indien keine nationale Regierung gestürzt, keinen Nationalstolz verletzt,
freilich nicht mit Willen und Verdienst, sondern weil es keine Nation vorfand.
Die meisten "Eingebornenstaaten" werden auch heute von Herrschern regiert,
die den Unterthanen ebenso fremd sind, wie die von außen hereingekommuen
Europäer. Diese sind nur etwas weiter hergekommen, daher fremder. Als Christen
stehen sie dem Brahmanen so fern wie die Mohammedaner, halten aber ihre
christlichen Überzeugungen viel mehr zurück, als diese ihre muslimischen. Daß
der Gegensatz der Hindu zu den Mohammedanern noch größer ist als zu deu
Christen, darin liegt eine Stärke der englischen Verwaltung. Sie wird all-
mühlich abnehmen, da sich die Gemeinsamkeit politischer Interessen bei den
Unterworfnen aller Kasten und Glaubensrichtungen langsam zum Bewußtsein
durchringt. Aber für lange noch wird Indiens Beherrschung zwischen den
fremden Europäern, denen die Hindu Dienste leisten, und den einheimischen
oder heimisch gewordnen Mohammedanern geteilt sein. Nur in diesen sehen die
Engländer einen ernsten Feind und Wettbewerber. Was wäre das Schicksal
Indiens, wenn heute die Ketten zerrissen würden, die es an England binden?
Die Massen würden vielleicht im Augenblick den Sieg über die hcrrschkrüftigen
Minderheiten gewinnen, aber die durch Rasse, Geist und Glauben hervor-


Zur Kenntnis der englischen lveltpolitik

Man darf nicht übersehen, daß eine große Schwäche der englischen Stellung
in Indien in allen geistigen Dingen offenkundig ist. An dem Mißerfolg der
christlichen Missionen ist nicht zu zweifeln. Es wäre besser, wenn es anders
darum stünde. Aber die bekehrten Jndier genießen im allgemeinen kein großes
Vertrauen. Im Verhältnis zu dem Alter der Missionsthütigkeit in Indien ist
der Betrag von ^/g Prozent Christen in der ganzen Bevölkerung verschwindend
gering. Ihre Mehrzahl lebt in den untern Schichten. Die Spitzen der ein-
gebornen Gesellschaft sind 208 Millionen Brahmagläubige, 57 Millionen Mo¬
hammedaner, dann Buddhisten und Parsen. Diese dringen also in die Ver¬
tretungen ein und besetzen die Beamtenstellen. Nun spielen die Religions¬
bekenntnisse in Indien eine ganz andre Rolle als bei uns. Die Religions¬
gemeinschaft ist Staat, Gesellschaft und — Zukunft. Darin liegt die Schwäche
und Stärke Indiens.


3

Wie die Eroberung Indiens eigentlich keine Eroberung, sondern vielmehr
eine Reihe von innern Umwälzungen war, die von den Europäern geleitet,
aber fast ganz von Eingebornen gemacht wurden, so ist auch die Erhaltung
der englischen Herrschaft in Indien nur möglich, weil es kein indisches Volk
im europäischen Sinne giebt, sondern Hunderte von Stämmen, Familien-
stümmen (Klaus), Kasten, Glaubensgenossenschaften u. dergl., die von Indien
so wenig wissen, daß der politische Begriff Indien ebenso von außen herein¬
getragen ist wie der Name, den keine indische Sprache kennt. England hat
in Indien keine nationale Regierung gestürzt, keinen Nationalstolz verletzt,
freilich nicht mit Willen und Verdienst, sondern weil es keine Nation vorfand.
Die meisten „Eingebornenstaaten" werden auch heute von Herrschern regiert,
die den Unterthanen ebenso fremd sind, wie die von außen hereingekommuen
Europäer. Diese sind nur etwas weiter hergekommen, daher fremder. Als Christen
stehen sie dem Brahmanen so fern wie die Mohammedaner, halten aber ihre
christlichen Überzeugungen viel mehr zurück, als diese ihre muslimischen. Daß
der Gegensatz der Hindu zu den Mohammedanern noch größer ist als zu deu
Christen, darin liegt eine Stärke der englischen Verwaltung. Sie wird all-
mühlich abnehmen, da sich die Gemeinsamkeit politischer Interessen bei den
Unterworfnen aller Kasten und Glaubensrichtungen langsam zum Bewußtsein
durchringt. Aber für lange noch wird Indiens Beherrschung zwischen den
fremden Europäern, denen die Hindu Dienste leisten, und den einheimischen
oder heimisch gewordnen Mohammedanern geteilt sein. Nur in diesen sehen die
Engländer einen ernsten Feind und Wettbewerber. Was wäre das Schicksal
Indiens, wenn heute die Ketten zerrissen würden, die es an England binden?
Die Massen würden vielleicht im Augenblick den Sieg über die hcrrschkrüftigen
Minderheiten gewinnen, aber die durch Rasse, Geist und Glauben hervor-


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[0506] Zur Kenntnis der englischen lveltpolitik Man darf nicht übersehen, daß eine große Schwäche der englischen Stellung in Indien in allen geistigen Dingen offenkundig ist. An dem Mißerfolg der christlichen Missionen ist nicht zu zweifeln. Es wäre besser, wenn es anders darum stünde. Aber die bekehrten Jndier genießen im allgemeinen kein großes Vertrauen. Im Verhältnis zu dem Alter der Missionsthütigkeit in Indien ist der Betrag von ^/g Prozent Christen in der ganzen Bevölkerung verschwindend gering. Ihre Mehrzahl lebt in den untern Schichten. Die Spitzen der ein- gebornen Gesellschaft sind 208 Millionen Brahmagläubige, 57 Millionen Mo¬ hammedaner, dann Buddhisten und Parsen. Diese dringen also in die Ver¬ tretungen ein und besetzen die Beamtenstellen. Nun spielen die Religions¬ bekenntnisse in Indien eine ganz andre Rolle als bei uns. Die Religions¬ gemeinschaft ist Staat, Gesellschaft und — Zukunft. Darin liegt die Schwäche und Stärke Indiens. 3 Wie die Eroberung Indiens eigentlich keine Eroberung, sondern vielmehr eine Reihe von innern Umwälzungen war, die von den Europäern geleitet, aber fast ganz von Eingebornen gemacht wurden, so ist auch die Erhaltung der englischen Herrschaft in Indien nur möglich, weil es kein indisches Volk im europäischen Sinne giebt, sondern Hunderte von Stämmen, Familien- stümmen (Klaus), Kasten, Glaubensgenossenschaften u. dergl., die von Indien so wenig wissen, daß der politische Begriff Indien ebenso von außen herein¬ getragen ist wie der Name, den keine indische Sprache kennt. England hat in Indien keine nationale Regierung gestürzt, keinen Nationalstolz verletzt, freilich nicht mit Willen und Verdienst, sondern weil es keine Nation vorfand. Die meisten „Eingebornenstaaten" werden auch heute von Herrschern regiert, die den Unterthanen ebenso fremd sind, wie die von außen hereingekommuen Europäer. Diese sind nur etwas weiter hergekommen, daher fremder. Als Christen stehen sie dem Brahmanen so fern wie die Mohammedaner, halten aber ihre christlichen Überzeugungen viel mehr zurück, als diese ihre muslimischen. Daß der Gegensatz der Hindu zu den Mohammedanern noch größer ist als zu deu Christen, darin liegt eine Stärke der englischen Verwaltung. Sie wird all- mühlich abnehmen, da sich die Gemeinsamkeit politischer Interessen bei den Unterworfnen aller Kasten und Glaubensrichtungen langsam zum Bewußtsein durchringt. Aber für lange noch wird Indiens Beherrschung zwischen den fremden Europäern, denen die Hindu Dienste leisten, und den einheimischen oder heimisch gewordnen Mohammedanern geteilt sein. Nur in diesen sehen die Engländer einen ernsten Feind und Wettbewerber. Was wäre das Schicksal Indiens, wenn heute die Ketten zerrissen würden, die es an England binden? Die Massen würden vielleicht im Augenblick den Sieg über die hcrrschkrüftigen Minderheiten gewinnen, aber die durch Rasse, Geist und Glauben hervor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/506>, abgerufen am 27.04.2024.