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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Sozialreform und die Gemeinden

Kaisertum der Habsburger aufs engste verbunden war; die Italiener voll¬
endeten ihre Einheit, indem sie den weltlichen Staat des internationalen Papst¬
tums zerstörten Beide Völker hatten den letzten und gefährlichsten Gegner
in den alten Ansprüchen Frankreichs auf eine überragende Machtstellung in
Mitteleuropa, beide sind einer geschichtlichen Notwendigkeit gefolgt, und daher
wird das Ergebnis dauern. Der Kirchenstaat wird so wenig wiederhergestellt
werden wie die deutschen geistlichen Fürstentümer, und das Papsttum wird
sich trotz aller Proteste mit diesem "Kirchenraube" ebenso abfinden müssen, wie
es sich mit dem viel größern deutschen Kircheuraube von 1648 und 1803 ab¬
gefunden hat. Denn dieser politische Besitz war nicht nur längst überflüssig
geworden, sondern das seiner entledigte Papsttum hat an geistlicher Macht nur
gewonnen. Das deutsche Reich aber ist mit Osterreich, das es nicht in sich
aufnehmen konnte, heute inniger verbunden als je, und indem sich das Königreich
Italien dieser mitteleuropäischen Machtbildung in freiem Bündnis anschloß,
ist in modernen völkerrechtlichen Formen das alte deutsch-römische Zentralreich
wieder aufgerichtet. Und so sind die Schicksalsgenossen, die sich so oft be¬
kämpft haben, heute zu ehrlichem Bundesgenossen geworden-




Die ^ozialreform und die Gemeinden

u den mannichfachen Fehlern und Mängeln, die unsrer sozial¬
politischen Gesetzgebung, insbesondre unsern Versichernngsgesetzen
anhaften, gehört vor allem der, daß die Opfer, die sie von deu
wirtschaftlich Stärkern sür die wirtschaftlich Schwächern fordern,
ungerecht verteilt sind. Lediglich oder vorzugsweise diesem Um¬
stände entspringen eine Menge Klagen über die in ihrem Kern doch immer mehr
anerkannten Versicherungsgesetze. Ein Teil der Unzufriednen beschwert sich
nur über die Last, die ihnen auferlegt wordeu ist, obgleich sie schon bedrückt
genug sind, und obgleich sie eigentlich auch zu den Schwachen gehören, denen
unter Umständen mit den Mitteln aus den Taschen der Wohlhabenden und
mit größerm Einkommen Gesegneten geholfen werden sollte. Der kleine
Handwerksmann, wie etwa der Tapezierer, der Maler, der Klempner, der sich
mit wenigen Gehilfen kümmerlich durchschlägt und doch zu den verschiednen
Versicherungskassen seiner Gehilfen jährlich fünfzig bis hundert Mark, ja noch
mehr beitragen muß, und der, wenn er selbst erkrankt und längere Zeit kränkelt,
schlimmer am Hungertuche nagen muß als der Gehilfe, und die bescheidne


Die Sozialreform und die Gemeinden

Kaisertum der Habsburger aufs engste verbunden war; die Italiener voll¬
endeten ihre Einheit, indem sie den weltlichen Staat des internationalen Papst¬
tums zerstörten Beide Völker hatten den letzten und gefährlichsten Gegner
in den alten Ansprüchen Frankreichs auf eine überragende Machtstellung in
Mitteleuropa, beide sind einer geschichtlichen Notwendigkeit gefolgt, und daher
wird das Ergebnis dauern. Der Kirchenstaat wird so wenig wiederhergestellt
werden wie die deutschen geistlichen Fürstentümer, und das Papsttum wird
sich trotz aller Proteste mit diesem „Kirchenraube" ebenso abfinden müssen, wie
es sich mit dem viel größern deutschen Kircheuraube von 1648 und 1803 ab¬
gefunden hat. Denn dieser politische Besitz war nicht nur längst überflüssig
geworden, sondern das seiner entledigte Papsttum hat an geistlicher Macht nur
gewonnen. Das deutsche Reich aber ist mit Osterreich, das es nicht in sich
aufnehmen konnte, heute inniger verbunden als je, und indem sich das Königreich
Italien dieser mitteleuropäischen Machtbildung in freiem Bündnis anschloß,
ist in modernen völkerrechtlichen Formen das alte deutsch-römische Zentralreich
wieder aufgerichtet. Und so sind die Schicksalsgenossen, die sich so oft be¬
kämpft haben, heute zu ehrlichem Bundesgenossen geworden-




Die ^ozialreform und die Gemeinden

u den mannichfachen Fehlern und Mängeln, die unsrer sozial¬
politischen Gesetzgebung, insbesondre unsern Versichernngsgesetzen
anhaften, gehört vor allem der, daß die Opfer, die sie von deu
wirtschaftlich Stärkern sür die wirtschaftlich Schwächern fordern,
ungerecht verteilt sind. Lediglich oder vorzugsweise diesem Um¬
stände entspringen eine Menge Klagen über die in ihrem Kern doch immer mehr
anerkannten Versicherungsgesetze. Ein Teil der Unzufriednen beschwert sich
nur über die Last, die ihnen auferlegt wordeu ist, obgleich sie schon bedrückt
genug sind, und obgleich sie eigentlich auch zu den Schwachen gehören, denen
unter Umständen mit den Mitteln aus den Taschen der Wohlhabenden und
mit größerm Einkommen Gesegneten geholfen werden sollte. Der kleine
Handwerksmann, wie etwa der Tapezierer, der Maler, der Klempner, der sich
mit wenigen Gehilfen kümmerlich durchschlägt und doch zu den verschiednen
Versicherungskassen seiner Gehilfen jährlich fünfzig bis hundert Mark, ja noch
mehr beitragen muß, und der, wenn er selbst erkrankt und längere Zeit kränkelt,
schlimmer am Hungertuche nagen muß als der Gehilfe, und die bescheidne


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[0548] Die Sozialreform und die Gemeinden Kaisertum der Habsburger aufs engste verbunden war; die Italiener voll¬ endeten ihre Einheit, indem sie den weltlichen Staat des internationalen Papst¬ tums zerstörten Beide Völker hatten den letzten und gefährlichsten Gegner in den alten Ansprüchen Frankreichs auf eine überragende Machtstellung in Mitteleuropa, beide sind einer geschichtlichen Notwendigkeit gefolgt, und daher wird das Ergebnis dauern. Der Kirchenstaat wird so wenig wiederhergestellt werden wie die deutschen geistlichen Fürstentümer, und das Papsttum wird sich trotz aller Proteste mit diesem „Kirchenraube" ebenso abfinden müssen, wie es sich mit dem viel größern deutschen Kircheuraube von 1648 und 1803 ab¬ gefunden hat. Denn dieser politische Besitz war nicht nur längst überflüssig geworden, sondern das seiner entledigte Papsttum hat an geistlicher Macht nur gewonnen. Das deutsche Reich aber ist mit Osterreich, das es nicht in sich aufnehmen konnte, heute inniger verbunden als je, und indem sich das Königreich Italien dieser mitteleuropäischen Machtbildung in freiem Bündnis anschloß, ist in modernen völkerrechtlichen Formen das alte deutsch-römische Zentralreich wieder aufgerichtet. Und so sind die Schicksalsgenossen, die sich so oft be¬ kämpft haben, heute zu ehrlichem Bundesgenossen geworden- Die ^ozialreform und die Gemeinden u den mannichfachen Fehlern und Mängeln, die unsrer sozial¬ politischen Gesetzgebung, insbesondre unsern Versichernngsgesetzen anhaften, gehört vor allem der, daß die Opfer, die sie von deu wirtschaftlich Stärkern sür die wirtschaftlich Schwächern fordern, ungerecht verteilt sind. Lediglich oder vorzugsweise diesem Um¬ stände entspringen eine Menge Klagen über die in ihrem Kern doch immer mehr anerkannten Versicherungsgesetze. Ein Teil der Unzufriednen beschwert sich nur über die Last, die ihnen auferlegt wordeu ist, obgleich sie schon bedrückt genug sind, und obgleich sie eigentlich auch zu den Schwachen gehören, denen unter Umständen mit den Mitteln aus den Taschen der Wohlhabenden und mit größerm Einkommen Gesegneten geholfen werden sollte. Der kleine Handwerksmann, wie etwa der Tapezierer, der Maler, der Klempner, der sich mit wenigen Gehilfen kümmerlich durchschlägt und doch zu den verschiednen Versicherungskassen seiner Gehilfen jährlich fünfzig bis hundert Mark, ja noch mehr beitragen muß, und der, wenn er selbst erkrankt und längere Zeit kränkelt, schlimmer am Hungertuche nagen muß als der Gehilfe, und die bescheidne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/548>, abgerufen am 27.04.2024.