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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Erdrückt in die Zukunft

aß die Lorbeeren, die dem Amerikaner Edward Bellamy sein
"Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887" eingebracht
hat, manchen nicht schlafen lassen würden, war vorauszusehen,
denn in dem Zeitalter des allgemeinen Wettbewerbs schießen
sofort Nachahmungen hervor, wo einem ein guter Wurf gelingt.
Wenn wir mit diesem Satze eine Besprechung des neuesten Zukunftsromans
einleiten, so wird der Verfasser dagegen hoffentlich nichts einzuwenden haben.
Nicht nur im Fundament und im Grundriß verraten beide Zukunftsschlösser
eine gewisse Übereinstimmung -- das wäre am Ende nicht zu verwundern,
weil ja die Überzeugung von der UnHaltbarkeit der gegenwärtigen Zustande
und der Glaube an die Möglichkeit einer Besserung den Grund für alle Utopien
bilden --, auch in dem Aufbau und in der Ausführung seines Phantasie¬
gebäudes hat der deutsche Weltverbesserer unverkennbar im Banne des ameri¬
kanischen Vorbildes gestanden/")

Wer heute in der Gestalt des Romans für politische oder soziale Ge¬
danken Propaganda machen will, der muß -- der Leser entschuldige die Tri¬
vialität dieses Gedankens -- vor allem ein guter Romanschreiber sein. Je
widerwärtiger, ekelhafter oder grausiger eine Geschichte ist, desto eher verträgt
sie bei dem spannunglüsternen, verdorbnen Geschmack der Gegenwart eine
mangelhafte Darstellung. Daß dem so ist, kann man beklagen, aber einstweilen
nicht ändern, und deshalb hat sich jeder Schriftsteller, der in dem Gewände
des Romans Gedanken unter das Volk tragen will, zu prüfen, ob er die
großen Gesetze und die kleinen Kniffe der Nomanschreiberei aus dem ff ver¬
stehe. Bellamy versteht sie. In meisterhafter Weise hat er seine Gedanken
in eine spannende Handlung verwoben und seine Personen so frisch und lebendig
geschildert, daß sich die neugierige Teilnahme des Lesers, von Kapitel zu Kapitel
gesteigert, nnr ungern dazu entschließt, an die berückenden Träume einer be¬
rauschten Phantasie mit den Zweifeln des nüchternen Verstandes hinanzutreten.
Daß auch Hertzka zum Romanschriftsteller das Zeug habe, können wir nach



*) Erdrückt in die Zukunft. sozialpolitischer Roman von Th. Hertzka. Berlin,
Ferd. Diimmler.


Erdrückt in die Zukunft

aß die Lorbeeren, die dem Amerikaner Edward Bellamy sein
„Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887" eingebracht
hat, manchen nicht schlafen lassen würden, war vorauszusehen,
denn in dem Zeitalter des allgemeinen Wettbewerbs schießen
sofort Nachahmungen hervor, wo einem ein guter Wurf gelingt.
Wenn wir mit diesem Satze eine Besprechung des neuesten Zukunftsromans
einleiten, so wird der Verfasser dagegen hoffentlich nichts einzuwenden haben.
Nicht nur im Fundament und im Grundriß verraten beide Zukunftsschlösser
eine gewisse Übereinstimmung — das wäre am Ende nicht zu verwundern,
weil ja die Überzeugung von der UnHaltbarkeit der gegenwärtigen Zustande
und der Glaube an die Möglichkeit einer Besserung den Grund für alle Utopien
bilden —, auch in dem Aufbau und in der Ausführung seines Phantasie¬
gebäudes hat der deutsche Weltverbesserer unverkennbar im Banne des ameri¬
kanischen Vorbildes gestanden/")

Wer heute in der Gestalt des Romans für politische oder soziale Ge¬
danken Propaganda machen will, der muß — der Leser entschuldige die Tri¬
vialität dieses Gedankens — vor allem ein guter Romanschreiber sein. Je
widerwärtiger, ekelhafter oder grausiger eine Geschichte ist, desto eher verträgt
sie bei dem spannunglüsternen, verdorbnen Geschmack der Gegenwart eine
mangelhafte Darstellung. Daß dem so ist, kann man beklagen, aber einstweilen
nicht ändern, und deshalb hat sich jeder Schriftsteller, der in dem Gewände
des Romans Gedanken unter das Volk tragen will, zu prüfen, ob er die
großen Gesetze und die kleinen Kniffe der Nomanschreiberei aus dem ff ver¬
stehe. Bellamy versteht sie. In meisterhafter Weise hat er seine Gedanken
in eine spannende Handlung verwoben und seine Personen so frisch und lebendig
geschildert, daß sich die neugierige Teilnahme des Lesers, von Kapitel zu Kapitel
gesteigert, nnr ungern dazu entschließt, an die berückenden Träume einer be¬
rauschten Phantasie mit den Zweifeln des nüchternen Verstandes hinanzutreten.
Daß auch Hertzka zum Romanschriftsteller das Zeug habe, können wir nach



*) Erdrückt in die Zukunft. sozialpolitischer Roman von Th. Hertzka. Berlin,
Ferd. Diimmler.
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[0623] [Abbildung] Erdrückt in die Zukunft aß die Lorbeeren, die dem Amerikaner Edward Bellamy sein „Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887" eingebracht hat, manchen nicht schlafen lassen würden, war vorauszusehen, denn in dem Zeitalter des allgemeinen Wettbewerbs schießen sofort Nachahmungen hervor, wo einem ein guter Wurf gelingt. Wenn wir mit diesem Satze eine Besprechung des neuesten Zukunftsromans einleiten, so wird der Verfasser dagegen hoffentlich nichts einzuwenden haben. Nicht nur im Fundament und im Grundriß verraten beide Zukunftsschlösser eine gewisse Übereinstimmung — das wäre am Ende nicht zu verwundern, weil ja die Überzeugung von der UnHaltbarkeit der gegenwärtigen Zustande und der Glaube an die Möglichkeit einer Besserung den Grund für alle Utopien bilden —, auch in dem Aufbau und in der Ausführung seines Phantasie¬ gebäudes hat der deutsche Weltverbesserer unverkennbar im Banne des ameri¬ kanischen Vorbildes gestanden/") Wer heute in der Gestalt des Romans für politische oder soziale Ge¬ danken Propaganda machen will, der muß — der Leser entschuldige die Tri¬ vialität dieses Gedankens — vor allem ein guter Romanschreiber sein. Je widerwärtiger, ekelhafter oder grausiger eine Geschichte ist, desto eher verträgt sie bei dem spannunglüsternen, verdorbnen Geschmack der Gegenwart eine mangelhafte Darstellung. Daß dem so ist, kann man beklagen, aber einstweilen nicht ändern, und deshalb hat sich jeder Schriftsteller, der in dem Gewände des Romans Gedanken unter das Volk tragen will, zu prüfen, ob er die großen Gesetze und die kleinen Kniffe der Nomanschreiberei aus dem ff ver¬ stehe. Bellamy versteht sie. In meisterhafter Weise hat er seine Gedanken in eine spannende Handlung verwoben und seine Personen so frisch und lebendig geschildert, daß sich die neugierige Teilnahme des Lesers, von Kapitel zu Kapitel gesteigert, nnr ungern dazu entschließt, an die berückenden Träume einer be¬ rauschten Phantasie mit den Zweifeln des nüchternen Verstandes hinanzutreten. Daß auch Hertzka zum Romanschriftsteller das Zeug habe, können wir nach *) Erdrückt in die Zukunft. sozialpolitischer Roman von Th. Hertzka. Berlin, Ferd. Diimmler.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/623>, abgerufen am 27.04.2024.