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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

summt mir eine alte Melodie in den Ohren: "Und da will man gern herunter,
und da kann man nicht!" Mit diesem Verslein wollen wir uns von der aller-
neuesten Utopie verabschieden.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Parteipolitik und unabhängige Kritik. Unsre Leser haben das Recht,
zu fragen, was wir zu den beiden Tranerfällen im konservativen Lager zu sagen
haben. Über den Fall Hammerstein -- gar nichts. In dieser Beziehung sind
die Nerven unsers sonst höchst nervösen Geschlechts so abgehärtet, daß einer Partei
auch ein Dutzend Auflagen dieses Falles nichts schaden würden, selbst wenn in dem
Panier dieser Partei "Für Religion und Sittlichkeit" geschrieben stände, der Kom-
prvmittirte ihr Bannerträger gewesen wäre, und sie ihn noch zu halten gesucht
hätte, nachdem seine Verbrechen schon weltbekannt geworden waren. Die einzige
Folge -- und das ist keine politische -- wird sein, daß sich die konservativen
Redner und Zeitungsschreiber aus Besorgnis vor allgemeiner Heiterkeit ein paar
Monate lang der pathetischen und salbungsvollen Moralpredigten enthalten werden.

Dagegen hat der Fall Stöcker politische Bedeutung. Die dadurch geschaffne
Lage läßt sich kurz folgendermaßen beschreiben. Die Nationnlliberalen begrüßen das
offne Eingeständnis des rechten Flügels der Konservativen, daß er seinerzeit "zur
Rettung des Vaterlands" an der Befreiung des Kaisers aus der Gewalt Vismarcks
und des Kartells gearbeitet habe, mit Freuden; sie hoffen, dadurch diesen Flügel
bei Hofe und bei der Mehrzahl der Wähler unmöglich machen und eine Kartell¬
mehrheit zuwege bringen zu können. Die Konservativen erwidern ihnen: Bildet
euch nicht Schwachheiten ein! Wir denken gar nicht daran, das abzustoßen, was ihr
die extremen Elemente nennt. Gerade diese machen unsre Kraft aus. Wollten
wir die Orthodoxen und die Agrarier von uns abstoßen, so würde es uns bald
ergehen wie euch, die ihr (so schrieb die Kreuzzeitung vor einigen Tagen) beinahe
nur noch ein Generalstab ohne Heer seid. Wenn ihr uns die Gefolgschaft ver¬
weigert, so gleicht ihr dem Hunde, der nach dem Schatten schnappte und das
Fleisch ins Wasser fallen ließ. (Ebenfalls Worte der Kreuzzeitung.) Man giebt
den Nationalliberalen zu verstehen, daß eine Kartellmehrheit (wie wir es oft gesagt
haben) eine arithmetische Unmöglichkeit sei. Selbstverständlich muß das Zentrum
uuter diesen Umständen Morgenluft wittern. Seine Organe, die noch vor wenigen
Jahren über "Se. Sedan" spotteten, überbieten die alten "Reichsfreunde" in der
Entrüstung über die sozialdemokratischen Unverschämtheiten, drängen sich an den
Kaiser hinan und stellen sich ihm für den Kampf gegen den Umsturz als aller-
getreueste Garde zur Verfügung; über die Fälle Stöcker und Hammerstein breitet
die Germania den Mantel des Auslands und der christlichen Liebe; sie ereifert
sich über das unanständige Breittreten in der liberalen Presse und ruft nach dem
Stnaisanwnlt, daß er dem Skandal ein Ende machen und weitere Veröffentlichungen
über Hcimmcrsteins Privatleben verhindern möge. Offenbar steht, eben aus aries-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

summt mir eine alte Melodie in den Ohren: „Und da will man gern herunter,
und da kann man nicht!" Mit diesem Verslein wollen wir uns von der aller-
neuesten Utopie verabschieden.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Parteipolitik und unabhängige Kritik. Unsre Leser haben das Recht,
zu fragen, was wir zu den beiden Tranerfällen im konservativen Lager zu sagen
haben. Über den Fall Hammerstein — gar nichts. In dieser Beziehung sind
die Nerven unsers sonst höchst nervösen Geschlechts so abgehärtet, daß einer Partei
auch ein Dutzend Auflagen dieses Falles nichts schaden würden, selbst wenn in dem
Panier dieser Partei „Für Religion und Sittlichkeit" geschrieben stände, der Kom-
prvmittirte ihr Bannerträger gewesen wäre, und sie ihn noch zu halten gesucht
hätte, nachdem seine Verbrechen schon weltbekannt geworden waren. Die einzige
Folge — und das ist keine politische — wird sein, daß sich die konservativen
Redner und Zeitungsschreiber aus Besorgnis vor allgemeiner Heiterkeit ein paar
Monate lang der pathetischen und salbungsvollen Moralpredigten enthalten werden.

Dagegen hat der Fall Stöcker politische Bedeutung. Die dadurch geschaffne
Lage läßt sich kurz folgendermaßen beschreiben. Die Nationnlliberalen begrüßen das
offne Eingeständnis des rechten Flügels der Konservativen, daß er seinerzeit „zur
Rettung des Vaterlands" an der Befreiung des Kaisers aus der Gewalt Vismarcks
und des Kartells gearbeitet habe, mit Freuden; sie hoffen, dadurch diesen Flügel
bei Hofe und bei der Mehrzahl der Wähler unmöglich machen und eine Kartell¬
mehrheit zuwege bringen zu können. Die Konservativen erwidern ihnen: Bildet
euch nicht Schwachheiten ein! Wir denken gar nicht daran, das abzustoßen, was ihr
die extremen Elemente nennt. Gerade diese machen unsre Kraft aus. Wollten
wir die Orthodoxen und die Agrarier von uns abstoßen, so würde es uns bald
ergehen wie euch, die ihr (so schrieb die Kreuzzeitung vor einigen Tagen) beinahe
nur noch ein Generalstab ohne Heer seid. Wenn ihr uns die Gefolgschaft ver¬
weigert, so gleicht ihr dem Hunde, der nach dem Schatten schnappte und das
Fleisch ins Wasser fallen ließ. (Ebenfalls Worte der Kreuzzeitung.) Man giebt
den Nationalliberalen zu verstehen, daß eine Kartellmehrheit (wie wir es oft gesagt
haben) eine arithmetische Unmöglichkeit sei. Selbstverständlich muß das Zentrum
uuter diesen Umständen Morgenluft wittern. Seine Organe, die noch vor wenigen
Jahren über „Se. Sedan" spotteten, überbieten die alten „Reichsfreunde" in der
Entrüstung über die sozialdemokratischen Unverschämtheiten, drängen sich an den
Kaiser hinan und stellen sich ihm für den Kampf gegen den Umsturz als aller-
getreueste Garde zur Verfügung; über die Fälle Stöcker und Hammerstein breitet
die Germania den Mantel des Auslands und der christlichen Liebe; sie ereifert
sich über das unanständige Breittreten in der liberalen Presse und ruft nach dem
Stnaisanwnlt, daß er dem Skandal ein Ende machen und weitere Veröffentlichungen
über Hcimmcrsteins Privatleben verhindern möge. Offenbar steht, eben aus aries-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/630>, abgerufen am 27.04.2024.