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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

unter die eine Hauptsache, daß dieser selbst als Redner alles andre war, ge¬
wandt, vielseitig, unterhaltend, witzig, nur kein Demosthenes. Glauben wir
also das Höchste in antiker Kunstrede an irgend etwas aus einem spätern
Zeitalter messen zu können und dabei etwas zu finden, was zur Kenntnis des
einen oder zum Nutzen des andern beitragen möchte, so würden wir immerhin
fünfzig Jahre über diesen unterhaltenden britischen Demosthenes zurückzugehen
haben.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Preußisch oder deutsch?

Dieses Thema, das die Grenzboten schon einigemal
gestreift haben, hat Professor Julius Baumann in Göttingen zum Gegenstand
einer Studie gemacht, die unter dem Titel: "Preußisch? oder zugleich Deutsch
und auch Allgemeinmenschlich? Eine angewandte Rechts- und Staatslehre"
bei Jäger in Frankfurt a. M. erschienen ist. Er kommt zu dem Ergebnis, daß
das deutsche Volk den Schutz, den Preußen gerade durch seine unsympathischen
Eigenschaften: durch seinen monarchisch-militärisch-büreaukratischen Charakter gewährt,
noch auf lange nicht werde entbehren können, daß es aber gleichzeitig darnach streben
müsse, sein halb Verlornes Volkstum wiederzugewinnen durch Wiederherstellung der
altgermanischen Selbstverwaltung in der Gemeinde. Die Liberalen, sagt er ganz
richtig, begingen den Irrtum, daß sie die Freiheit immer an der Spitze suchten
statt in der Grundlage. Den Weg bahnt er sich einerseits durch Betrach¬
tungen über Staatskunst, Verfassungen und Menschennatur im allgemeinen, andrer¬
seits durch eine Musterung des Charakters und des gegenwärtigen politischen Zu¬
standes der Kulturvölker, wobei sonderbarerweise die Italiener ganz ausfallen.
Diese Musterung hält er für notwendig, weil nach Ranke "die Nationen ihren
Rang in der Weltgeschichte einnehmen nach dem Grade, in welchem sie das Ge¬
meingut der gebildeten Menschheit sich aneignen und annehmen," es also gerade
das Allgemeinmenschliche in nationaler Fassung sei, was die Bedeutung eines Volkes
ausmache. Außerdem giebt ihm die Schilderung der Zustände Englands und seiner
Kolonien Gelegenheit, das Wesen der Selbstverwaltung und Gemeindesreiheit zu
entwickeln. Seiner Schilderung nach, die sich auf Dilke stützt, hätten Kanada,
Australasien und Südafrika das Ideal des wiederhergestellten und mit den Gütern
der modernen Zivilisation ausgestatteten deutschen Volkstums schon verwirklicht.
Daß die Deutschen, die doch unter Romanen und Slawen ihr Volkstum treu zu
bewahren pflegen, in einer englischen Kolonialbevölkerung meistens rasch aufgehen,
findet er nicht tadelnswert, sei das doch kein Abfall von der eignen Nationalität,
sondern vielmehr ein Rückschlag ins alte echte Deutschtum. Wenn die Deutschen
in der Heimat für die Freiheit nicht reif oder unfähig erschienen, so sei das nur
eine Wirkung äußerer Umstände; wie der Mensch von Natur weder gut noch böse,
sondern nur zu beidem fähig sei, und es von den äußern Umständen abhänge,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

unter die eine Hauptsache, daß dieser selbst als Redner alles andre war, ge¬
wandt, vielseitig, unterhaltend, witzig, nur kein Demosthenes. Glauben wir
also das Höchste in antiker Kunstrede an irgend etwas aus einem spätern
Zeitalter messen zu können und dabei etwas zu finden, was zur Kenntnis des
einen oder zum Nutzen des andern beitragen möchte, so würden wir immerhin
fünfzig Jahre über diesen unterhaltenden britischen Demosthenes zurückzugehen
haben.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Preußisch oder deutsch?

Dieses Thema, das die Grenzboten schon einigemal
gestreift haben, hat Professor Julius Baumann in Göttingen zum Gegenstand
einer Studie gemacht, die unter dem Titel: „Preußisch? oder zugleich Deutsch
und auch Allgemeinmenschlich? Eine angewandte Rechts- und Staatslehre"
bei Jäger in Frankfurt a. M. erschienen ist. Er kommt zu dem Ergebnis, daß
das deutsche Volk den Schutz, den Preußen gerade durch seine unsympathischen
Eigenschaften: durch seinen monarchisch-militärisch-büreaukratischen Charakter gewährt,
noch auf lange nicht werde entbehren können, daß es aber gleichzeitig darnach streben
müsse, sein halb Verlornes Volkstum wiederzugewinnen durch Wiederherstellung der
altgermanischen Selbstverwaltung in der Gemeinde. Die Liberalen, sagt er ganz
richtig, begingen den Irrtum, daß sie die Freiheit immer an der Spitze suchten
statt in der Grundlage. Den Weg bahnt er sich einerseits durch Betrach¬
tungen über Staatskunst, Verfassungen und Menschennatur im allgemeinen, andrer¬
seits durch eine Musterung des Charakters und des gegenwärtigen politischen Zu¬
standes der Kulturvölker, wobei sonderbarerweise die Italiener ganz ausfallen.
Diese Musterung hält er für notwendig, weil nach Ranke „die Nationen ihren
Rang in der Weltgeschichte einnehmen nach dem Grade, in welchem sie das Ge¬
meingut der gebildeten Menschheit sich aneignen und annehmen," es also gerade
das Allgemeinmenschliche in nationaler Fassung sei, was die Bedeutung eines Volkes
ausmache. Außerdem giebt ihm die Schilderung der Zustände Englands und seiner
Kolonien Gelegenheit, das Wesen der Selbstverwaltung und Gemeindesreiheit zu
entwickeln. Seiner Schilderung nach, die sich auf Dilke stützt, hätten Kanada,
Australasien und Südafrika das Ideal des wiederhergestellten und mit den Gütern
der modernen Zivilisation ausgestatteten deutschen Volkstums schon verwirklicht.
Daß die Deutschen, die doch unter Romanen und Slawen ihr Volkstum treu zu
bewahren pflegen, in einer englischen Kolonialbevölkerung meistens rasch aufgehen,
findet er nicht tadelnswert, sei das doch kein Abfall von der eignen Nationalität,
sondern vielmehr ein Rückschlag ins alte echte Deutschtum. Wenn die Deutschen
in der Heimat für die Freiheit nicht reif oder unfähig erschienen, so sei das nur
eine Wirkung äußerer Umstände; wie der Mensch von Natur weder gut noch böse,
sondern nur zu beidem fähig sei, und es von den äußern Umständen abhänge,


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[0636] Maßgebliches und Unmaßgebliches unter die eine Hauptsache, daß dieser selbst als Redner alles andre war, ge¬ wandt, vielseitig, unterhaltend, witzig, nur kein Demosthenes. Glauben wir also das Höchste in antiker Kunstrede an irgend etwas aus einem spätern Zeitalter messen zu können und dabei etwas zu finden, was zur Kenntnis des einen oder zum Nutzen des andern beitragen möchte, so würden wir immerhin fünfzig Jahre über diesen unterhaltenden britischen Demosthenes zurückzugehen haben. Maßgebliches und Unmaßgebliches Preußisch oder deutsch? Dieses Thema, das die Grenzboten schon einigemal gestreift haben, hat Professor Julius Baumann in Göttingen zum Gegenstand einer Studie gemacht, die unter dem Titel: „Preußisch? oder zugleich Deutsch und auch Allgemeinmenschlich? Eine angewandte Rechts- und Staatslehre" bei Jäger in Frankfurt a. M. erschienen ist. Er kommt zu dem Ergebnis, daß das deutsche Volk den Schutz, den Preußen gerade durch seine unsympathischen Eigenschaften: durch seinen monarchisch-militärisch-büreaukratischen Charakter gewährt, noch auf lange nicht werde entbehren können, daß es aber gleichzeitig darnach streben müsse, sein halb Verlornes Volkstum wiederzugewinnen durch Wiederherstellung der altgermanischen Selbstverwaltung in der Gemeinde. Die Liberalen, sagt er ganz richtig, begingen den Irrtum, daß sie die Freiheit immer an der Spitze suchten statt in der Grundlage. Den Weg bahnt er sich einerseits durch Betrach¬ tungen über Staatskunst, Verfassungen und Menschennatur im allgemeinen, andrer¬ seits durch eine Musterung des Charakters und des gegenwärtigen politischen Zu¬ standes der Kulturvölker, wobei sonderbarerweise die Italiener ganz ausfallen. Diese Musterung hält er für notwendig, weil nach Ranke „die Nationen ihren Rang in der Weltgeschichte einnehmen nach dem Grade, in welchem sie das Ge¬ meingut der gebildeten Menschheit sich aneignen und annehmen," es also gerade das Allgemeinmenschliche in nationaler Fassung sei, was die Bedeutung eines Volkes ausmache. Außerdem giebt ihm die Schilderung der Zustände Englands und seiner Kolonien Gelegenheit, das Wesen der Selbstverwaltung und Gemeindesreiheit zu entwickeln. Seiner Schilderung nach, die sich auf Dilke stützt, hätten Kanada, Australasien und Südafrika das Ideal des wiederhergestellten und mit den Gütern der modernen Zivilisation ausgestatteten deutschen Volkstums schon verwirklicht. Daß die Deutschen, die doch unter Romanen und Slawen ihr Volkstum treu zu bewahren pflegen, in einer englischen Kolonialbevölkerung meistens rasch aufgehen, findet er nicht tadelnswert, sei das doch kein Abfall von der eignen Nationalität, sondern vielmehr ein Rückschlag ins alte echte Deutschtum. Wenn die Deutschen in der Heimat für die Freiheit nicht reif oder unfähig erschienen, so sei das nur eine Wirkung äußerer Umstände; wie der Mensch von Natur weder gut noch böse, sondern nur zu beidem fähig sei, und es von den äußern Umständen abhänge,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/636>, abgerufen am 27.04.2024.