Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
9. Lin idyllisches Ruheplätzchen (Fortsetzung)

in Tage nach der Übergabe stellten sich mir meine beiden Nach¬
barn zur Rechten und zur Linken vor und erboten sich zu Hilf¬
leistungen beim Räumen, Nageln und was es sonst für starke
Arme zu thun geben könne. Sie waren, wie die ganze Nachbar¬
schaft, evangelisch; meine paar Kirchkinder wohnten in weiterer
Entfernung zerstreut.

Der Nachbar zur Rechten war Stellmacher; von ihm weiß ich weiter
nichts zu melden, als daß er einmal ein Bein brach und die Zeit der Ge¬
nesung, wo er für sein Handwerk noch nicht fest genug stand, dazu be¬
nutzte, sein Dach unizudecken. Er that es ganz allein, ohne einen Gehilfen,
und zwar war gerade Winterszeit, aber ein wunderbar warmer und trockner
Winter. Es ging natürlich langsam, da er täglich nnr ein paar Dutzend
Schindeln annagelte, so weit er von seiner Leiter, wie sie gerade stand, reichen
konnte, aber schließlich wurde er doch fertig; richtige Landleute nehmen sich
zu allem Zeit und werden mit allem gut fertig.

Viel interessanter war der andre, Grüttner-Gottlieb, ein großer, starker,
plumper Mann mit einem dicken, roten, freundlich grinsenden Gesicht; Hosen
und Jacke hingen ihm, im Sommer wenigstens, wo "seine" keine Zeit zum
Flicken hatte, in Lappen vom Leibe. Mein Vorgänger hatte ihm oft gesagt:
Gottlieb, wenn der Wind mal richtig in die Löcher Ihrer Kleider fährt, dann
fliegen Sie als Luftballon fort. Wir begrüßten uns fast täglich am Gartenzaun,
des Morgens, wenn er aufs Feld hinausging, wie des Abends, wenn er zurück¬
kehrte. Herr Forr, pflegte er zu sagen, niemand Hols besser wie Sie uf der
Welt; Sie kriegen jeden ersten Ihr Gewisses und brauchen sich bei niemandem
zu bedanken. Aber, fügte er gewöhnlich hinzu, in Ihrem Hause möchte ich
nicht wohnen; hinter den eisernen Gittern, da käm ich mir ja vor wie im
Gefängnis. Einmal setzte er keuchend seine Nadwer") nieder und sagte: Sehn
Se, ich und das Weib hie (es war trotz ihrer fünfzig Jahre eine hübsche



Schubkarren.


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
9. Lin idyllisches Ruheplätzchen (Fortsetzung)

in Tage nach der Übergabe stellten sich mir meine beiden Nach¬
barn zur Rechten und zur Linken vor und erboten sich zu Hilf¬
leistungen beim Räumen, Nageln und was es sonst für starke
Arme zu thun geben könne. Sie waren, wie die ganze Nachbar¬
schaft, evangelisch; meine paar Kirchkinder wohnten in weiterer
Entfernung zerstreut.

Der Nachbar zur Rechten war Stellmacher; von ihm weiß ich weiter
nichts zu melden, als daß er einmal ein Bein brach und die Zeit der Ge¬
nesung, wo er für sein Handwerk noch nicht fest genug stand, dazu be¬
nutzte, sein Dach unizudecken. Er that es ganz allein, ohne einen Gehilfen,
und zwar war gerade Winterszeit, aber ein wunderbar warmer und trockner
Winter. Es ging natürlich langsam, da er täglich nnr ein paar Dutzend
Schindeln annagelte, so weit er von seiner Leiter, wie sie gerade stand, reichen
konnte, aber schließlich wurde er doch fertig; richtige Landleute nehmen sich
zu allem Zeit und werden mit allem gut fertig.

Viel interessanter war der andre, Grüttner-Gottlieb, ein großer, starker,
plumper Mann mit einem dicken, roten, freundlich grinsenden Gesicht; Hosen
und Jacke hingen ihm, im Sommer wenigstens, wo „seine" keine Zeit zum
Flicken hatte, in Lappen vom Leibe. Mein Vorgänger hatte ihm oft gesagt:
Gottlieb, wenn der Wind mal richtig in die Löcher Ihrer Kleider fährt, dann
fliegen Sie als Luftballon fort. Wir begrüßten uns fast täglich am Gartenzaun,
des Morgens, wenn er aufs Feld hinausging, wie des Abends, wenn er zurück¬
kehrte. Herr Forr, pflegte er zu sagen, niemand Hols besser wie Sie uf der
Welt; Sie kriegen jeden ersten Ihr Gewisses und brauchen sich bei niemandem
zu bedanken. Aber, fügte er gewöhnlich hinzu, in Ihrem Hause möchte ich
nicht wohnen; hinter den eisernen Gittern, da käm ich mir ja vor wie im
Gefängnis. Einmal setzte er keuchend seine Nadwer") nieder und sagte: Sehn
Se, ich und das Weib hie (es war trotz ihrer fünfzig Jahre eine hübsche



Schubkarren.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0490" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221464"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341861_220975/figures/grenzboten_341861_220975_221464_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome<lb/>
9. Lin idyllisches Ruheplätzchen (Fortsetzung)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1629"> in Tage nach der Übergabe stellten sich mir meine beiden Nach¬<lb/>
barn zur Rechten und zur Linken vor und erboten sich zu Hilf¬<lb/>
leistungen beim Räumen, Nageln und was es sonst für starke<lb/>
Arme zu thun geben könne. Sie waren, wie die ganze Nachbar¬<lb/>
schaft, evangelisch; meine paar Kirchkinder wohnten in weiterer<lb/>
Entfernung zerstreut.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1630"> Der Nachbar zur Rechten war Stellmacher; von ihm weiß ich weiter<lb/>
nichts zu melden, als daß er einmal ein Bein brach und die Zeit der Ge¬<lb/>
nesung, wo er für sein Handwerk noch nicht fest genug stand, dazu be¬<lb/>
nutzte, sein Dach unizudecken. Er that es ganz allein, ohne einen Gehilfen,<lb/>
und zwar war gerade Winterszeit, aber ein wunderbar warmer und trockner<lb/>
Winter. Es ging natürlich langsam, da er täglich nnr ein paar Dutzend<lb/>
Schindeln annagelte, so weit er von seiner Leiter, wie sie gerade stand, reichen<lb/>
konnte, aber schließlich wurde er doch fertig; richtige Landleute nehmen sich<lb/>
zu allem Zeit und werden mit allem gut fertig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1631" next="#ID_1632"> Viel interessanter war der andre, Grüttner-Gottlieb, ein großer, starker,<lb/>
plumper Mann mit einem dicken, roten, freundlich grinsenden Gesicht; Hosen<lb/>
und Jacke hingen ihm, im Sommer wenigstens, wo &#x201E;seine" keine Zeit zum<lb/>
Flicken hatte, in Lappen vom Leibe. Mein Vorgänger hatte ihm oft gesagt:<lb/>
Gottlieb, wenn der Wind mal richtig in die Löcher Ihrer Kleider fährt, dann<lb/>
fliegen Sie als Luftballon fort. Wir begrüßten uns fast täglich am Gartenzaun,<lb/>
des Morgens, wenn er aufs Feld hinausging, wie des Abends, wenn er zurück¬<lb/>
kehrte. Herr Forr, pflegte er zu sagen, niemand Hols besser wie Sie uf der<lb/>
Welt; Sie kriegen jeden ersten Ihr Gewisses und brauchen sich bei niemandem<lb/>
zu bedanken. Aber, fügte er gewöhnlich hinzu, in Ihrem Hause möchte ich<lb/>
nicht wohnen; hinter den eisernen Gittern, da käm ich mir ja vor wie im<lb/>
Gefängnis. Einmal setzte er keuchend seine Nadwer") nieder und sagte: Sehn<lb/>
Se, ich und das Weib hie (es war trotz ihrer fünfzig Jahre eine hübsche</p><lb/>
          <note xml:id="FID_66" place="foot"> Schubkarren.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0490] [Abbildung] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome 9. Lin idyllisches Ruheplätzchen (Fortsetzung) in Tage nach der Übergabe stellten sich mir meine beiden Nach¬ barn zur Rechten und zur Linken vor und erboten sich zu Hilf¬ leistungen beim Räumen, Nageln und was es sonst für starke Arme zu thun geben könne. Sie waren, wie die ganze Nachbar¬ schaft, evangelisch; meine paar Kirchkinder wohnten in weiterer Entfernung zerstreut. Der Nachbar zur Rechten war Stellmacher; von ihm weiß ich weiter nichts zu melden, als daß er einmal ein Bein brach und die Zeit der Ge¬ nesung, wo er für sein Handwerk noch nicht fest genug stand, dazu be¬ nutzte, sein Dach unizudecken. Er that es ganz allein, ohne einen Gehilfen, und zwar war gerade Winterszeit, aber ein wunderbar warmer und trockner Winter. Es ging natürlich langsam, da er täglich nnr ein paar Dutzend Schindeln annagelte, so weit er von seiner Leiter, wie sie gerade stand, reichen konnte, aber schließlich wurde er doch fertig; richtige Landleute nehmen sich zu allem Zeit und werden mit allem gut fertig. Viel interessanter war der andre, Grüttner-Gottlieb, ein großer, starker, plumper Mann mit einem dicken, roten, freundlich grinsenden Gesicht; Hosen und Jacke hingen ihm, im Sommer wenigstens, wo „seine" keine Zeit zum Flicken hatte, in Lappen vom Leibe. Mein Vorgänger hatte ihm oft gesagt: Gottlieb, wenn der Wind mal richtig in die Löcher Ihrer Kleider fährt, dann fliegen Sie als Luftballon fort. Wir begrüßten uns fast täglich am Gartenzaun, des Morgens, wenn er aufs Feld hinausging, wie des Abends, wenn er zurück¬ kehrte. Herr Forr, pflegte er zu sagen, niemand Hols besser wie Sie uf der Welt; Sie kriegen jeden ersten Ihr Gewisses und brauchen sich bei niemandem zu bedanken. Aber, fügte er gewöhnlich hinzu, in Ihrem Hause möchte ich nicht wohnen; hinter den eisernen Gittern, da käm ich mir ja vor wie im Gefängnis. Einmal setzte er keuchend seine Nadwer") nieder und sagte: Sehn Se, ich und das Weib hie (es war trotz ihrer fünfzig Jahre eine hübsche Schubkarren.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/490
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/490>, abgerufen am 22.05.2024.