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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Das Recht der Persönlichkeit

als geeignete,? Endpunkt für seine sibirische Eisenbahn erwirbt. Vor wenigen
Monaten noch Hütte man all diese Dinge nicht mit so völliger Entsagung hin¬
genommen, wie man das jetzt infolge der Mißgeschicke thut, die die englische
Politik jüngst erlebt hat. Die Furcht vor der Feindschaft der Vereinigten
Staaten und Deutschlands hat es zu Wege gebracht, daß der Gedanke eines
Bündnisses mit Nußland, dem langjährigen Gegner, in der öffentlichen Mei¬
nung ausgesprochen werden darf. Aber für ein solches Bündnis hat England
bereits den rechten Augenblick verfehlt, und alle höflichen Verbeugungen werden
wenig helfen. Rußland ist sich wohl bewußt, daß es der englischen Politik
im Orient wie im fernen Osten eine empfindliche Niederlage beigebracht hat,
und daß es der englischen Freundschaft nicht bedarf, wenn es Zutritt zum
Mittelländischen und zum Gelben Meere haben will. Überdies wird England
weder die gewünschte Station an der chinesischen Küste noch eine Insel an den
Dardanellen erhalten, wenn es Rußland, der Türkei, China und andern Mächten
nicht offen Trutz bieten will, was es wohlweislich unterlassen wird. Die rus¬
sische Diplomatie hat eben durch ihr kalt berechnendes Vorgehen die englische
aus dem Felde geschlagen.




Das Recht der Persönlichkeit
v Adolf Barrels on

er Leser erschrecke nicht, was kommt, ist ein Zitat: Das neue
Jahrhundert, dem wir entgegengehen, wirft wie jedes Säkulum
seine Schatten schon weit voraus. Und wer einen für historische
Entwicklungen geschärften Blick besitzt, wird sich nicht verhehlen
^! können, daß wir in einer romantisch-reaktionären, aristokratischen
Epoche stehen, der auch die erste Hälfte des nächsten Jahrhunderts noch
gehören dürfte. Die immer schroffer hervortretende Verschärfung der Gegen¬
sätze wird auf der einen Seite eine kleine Anzahl erlesener Individuen schaffen,
die auch in der Dichtung das Recht der Persönlichkeit betonen wird, die,
skrupellos in der Wahl ihrer Mittel, auf Kosten der Schwächer" ihre geniale
Kraft frei bethätigt. Schon die zweite Hälfte unsers Jahrhunderts steht nicht
'"ehr unter dem Zeichen der breiten Masse, sondern unter dem Bismarcks
und Wagners, der Einzelgenies. Der Philosoph der Zukunft ist Friedrich
Nietzsche, der Apostel des Individualismus. Das Buch, das einen wahre"
Sturm in Deutschland hervorrief und den größten Erfolg im letzten Jahrzehnt
hatte, war Langbehns "Rembrand als Erzieher," und es predigte gleichfalls


Das Recht der Persönlichkeit

als geeignete,? Endpunkt für seine sibirische Eisenbahn erwirbt. Vor wenigen
Monaten noch Hütte man all diese Dinge nicht mit so völliger Entsagung hin¬
genommen, wie man das jetzt infolge der Mißgeschicke thut, die die englische
Politik jüngst erlebt hat. Die Furcht vor der Feindschaft der Vereinigten
Staaten und Deutschlands hat es zu Wege gebracht, daß der Gedanke eines
Bündnisses mit Nußland, dem langjährigen Gegner, in der öffentlichen Mei¬
nung ausgesprochen werden darf. Aber für ein solches Bündnis hat England
bereits den rechten Augenblick verfehlt, und alle höflichen Verbeugungen werden
wenig helfen. Rußland ist sich wohl bewußt, daß es der englischen Politik
im Orient wie im fernen Osten eine empfindliche Niederlage beigebracht hat,
und daß es der englischen Freundschaft nicht bedarf, wenn es Zutritt zum
Mittelländischen und zum Gelben Meere haben will. Überdies wird England
weder die gewünschte Station an der chinesischen Küste noch eine Insel an den
Dardanellen erhalten, wenn es Rußland, der Türkei, China und andern Mächten
nicht offen Trutz bieten will, was es wohlweislich unterlassen wird. Die rus¬
sische Diplomatie hat eben durch ihr kalt berechnendes Vorgehen die englische
aus dem Felde geschlagen.




Das Recht der Persönlichkeit
v Adolf Barrels on

er Leser erschrecke nicht, was kommt, ist ein Zitat: Das neue
Jahrhundert, dem wir entgegengehen, wirft wie jedes Säkulum
seine Schatten schon weit voraus. Und wer einen für historische
Entwicklungen geschärften Blick besitzt, wird sich nicht verhehlen
^! können, daß wir in einer romantisch-reaktionären, aristokratischen
Epoche stehen, der auch die erste Hälfte des nächsten Jahrhunderts noch
gehören dürfte. Die immer schroffer hervortretende Verschärfung der Gegen¬
sätze wird auf der einen Seite eine kleine Anzahl erlesener Individuen schaffen,
die auch in der Dichtung das Recht der Persönlichkeit betonen wird, die,
skrupellos in der Wahl ihrer Mittel, auf Kosten der Schwächer« ihre geniale
Kraft frei bethätigt. Schon die zweite Hälfte unsers Jahrhunderts steht nicht
'"ehr unter dem Zeichen der breiten Masse, sondern unter dem Bismarcks
und Wagners, der Einzelgenies. Der Philosoph der Zukunft ist Friedrich
Nietzsche, der Apostel des Individualismus. Das Buch, das einen wahre»
Sturm in Deutschland hervorrief und den größten Erfolg im letzten Jahrzehnt
hatte, war Langbehns „Rembrand als Erzieher," und es predigte gleichfalls


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[0367] Das Recht der Persönlichkeit als geeignete,? Endpunkt für seine sibirische Eisenbahn erwirbt. Vor wenigen Monaten noch Hütte man all diese Dinge nicht mit so völliger Entsagung hin¬ genommen, wie man das jetzt infolge der Mißgeschicke thut, die die englische Politik jüngst erlebt hat. Die Furcht vor der Feindschaft der Vereinigten Staaten und Deutschlands hat es zu Wege gebracht, daß der Gedanke eines Bündnisses mit Nußland, dem langjährigen Gegner, in der öffentlichen Mei¬ nung ausgesprochen werden darf. Aber für ein solches Bündnis hat England bereits den rechten Augenblick verfehlt, und alle höflichen Verbeugungen werden wenig helfen. Rußland ist sich wohl bewußt, daß es der englischen Politik im Orient wie im fernen Osten eine empfindliche Niederlage beigebracht hat, und daß es der englischen Freundschaft nicht bedarf, wenn es Zutritt zum Mittelländischen und zum Gelben Meere haben will. Überdies wird England weder die gewünschte Station an der chinesischen Küste noch eine Insel an den Dardanellen erhalten, wenn es Rußland, der Türkei, China und andern Mächten nicht offen Trutz bieten will, was es wohlweislich unterlassen wird. Die rus¬ sische Diplomatie hat eben durch ihr kalt berechnendes Vorgehen die englische aus dem Felde geschlagen. Das Recht der Persönlichkeit v Adolf Barrels on er Leser erschrecke nicht, was kommt, ist ein Zitat: Das neue Jahrhundert, dem wir entgegengehen, wirft wie jedes Säkulum seine Schatten schon weit voraus. Und wer einen für historische Entwicklungen geschärften Blick besitzt, wird sich nicht verhehlen ^! können, daß wir in einer romantisch-reaktionären, aristokratischen Epoche stehen, der auch die erste Hälfte des nächsten Jahrhunderts noch gehören dürfte. Die immer schroffer hervortretende Verschärfung der Gegen¬ sätze wird auf der einen Seite eine kleine Anzahl erlesener Individuen schaffen, die auch in der Dichtung das Recht der Persönlichkeit betonen wird, die, skrupellos in der Wahl ihrer Mittel, auf Kosten der Schwächer« ihre geniale Kraft frei bethätigt. Schon die zweite Hälfte unsers Jahrhunderts steht nicht '"ehr unter dem Zeichen der breiten Masse, sondern unter dem Bismarcks und Wagners, der Einzelgenies. Der Philosoph der Zukunft ist Friedrich Nietzsche, der Apostel des Individualismus. Das Buch, das einen wahre» Sturm in Deutschland hervorrief und den größten Erfolg im letzten Jahrzehnt hatte, war Langbehns „Rembrand als Erzieher," und es predigte gleichfalls

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/367>, abgerufen am 19.05.2024.