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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

dabei ganz, daß sie diesen Vorsah schon hundertmal gefaßt und niemals aus¬
geführt hatte.

So war es auch diesmal; uach acht Tagen gab sie wirklich den Kaffee und
verlästerte den Grafen nach allen Regeln der Kunst. Er machte sich nichts daraus;
ihm war das Leben sehr gleichgültig geworden, obgleich er es mit einer gewissen
vornehmen Wurde weiter trug.

Vor einigen Jahren ist er gestorben, wahrend Frau von Zehleneck noch lebt.
Sie ist noch ganz wie früher, bis auf die Veränderungen, die das Alter um ihr
hervorgebracht hat. Niemand liebt sie; jedermann aber fürchtet sie. Sie gehört
zu den Leuten, von denen man, wie der landläufige Ausdruck ist, Geschichten
schreiben kann. Sie weiß viel, und sie erzählt noch mehr, als sie weiß; nnr von
einem Gegenstande schweigt sie beharrlich: von der ersten Liebe.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Unhaltbare Fiktionen.

Seit jener Niederlage des Christentums, die ge¬
wöhnlich als sein Sieg bezeichnet wird, leidet die Kulturwelt an dem ungeheuern
Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, der in unsern Tagen so weit ge¬
diehen ist, daß sogar das christliche Ideal nur uoch dem Namen nach unser
Ideal ist, und daß Kierkegaard berechtigt war, die Christlichkeit der Christenheit
eine Selbsttäuschung zu nennen. Voltaire hat diese Selbstbelügung -- z. B. im
Ingenu -- mit blutigem Hohne gegeißelt, und Hartpole Lecky hat mit wissenschaft¬
lichem Ernst die tiefe Schädigung dargelegt, die sie dem Charakter der europäische"
Völker zugefügt hat; sie hat ihn mit UnWahrhaftigkeit durchtränkt und die edle,
stolze, männliche Offenheit und Wahrhaftigkeit der Alten Verbanne. Der wahrhaf¬
tige und offne Luther hat diesen Zustand zwar für seine Person überwunden, aber
für die christlichen Völker konnte er ihn nicht überwinden, weil ihn die Ereignisse
von seiner ursprünglichen Absicht, inmitten der getauften Heidenschaft eine Ge¬
meinde der wirklich Gläubigen zu sammeln, abgedrängt und zur Gründung neuer
Stantskirchen gezwungen haben. Ohne Zweifel wird diese Schädigung der Völker,
die doch im Rate der Vorsehung beschlossen sein muß, von anderweitigen Vorteilen
überwogen, indes mit diesen haben wir es heute uicht zu thun, sondern nur mit
einem andern Nachteil, der aus jenem ersten fließt, mit den Verlegenheiten, die
die sogenannte Christlichkeit den Politikern bereitet. Nachdem man einmal bis zu der
verkehrten Idee des christlichen Staats fortgeschritten war. konnte es nicht fehlen,
daß schließlich auch an die Politik das Ansinnen gestellt wurde, sie müsse christlich
sein. Hölzernes Eisen, kühlendes Feuer, lebendige Leiche, steinerner Geist -- was
immer man sich ungereimtes denken mag, es wird kaum ein so widerspruchsvolles
und unmögliches Ding sein wie die christliche Politik. Denn das Wesen der christ¬
lichen Gesinnung besteht in der Selbstverleugnung und opferwilligen Liebe, in dem
Verzicht auf irdische" Genuß und Besitz um des Himmelreichs willen, die
Politik aber ist der geordnete Kampf der irdischen Interessen. So wird denu dem
Kladderadatsch täglich Stoff geliefert zu Satiren gleich der ans den Reichsboten


Grenzboten I 18S6 80
Maßgebliches und Unmaßgebliches

dabei ganz, daß sie diesen Vorsah schon hundertmal gefaßt und niemals aus¬
geführt hatte.

So war es auch diesmal; uach acht Tagen gab sie wirklich den Kaffee und
verlästerte den Grafen nach allen Regeln der Kunst. Er machte sich nichts daraus;
ihm war das Leben sehr gleichgültig geworden, obgleich er es mit einer gewissen
vornehmen Wurde weiter trug.

Vor einigen Jahren ist er gestorben, wahrend Frau von Zehleneck noch lebt.
Sie ist noch ganz wie früher, bis auf die Veränderungen, die das Alter um ihr
hervorgebracht hat. Niemand liebt sie; jedermann aber fürchtet sie. Sie gehört
zu den Leuten, von denen man, wie der landläufige Ausdruck ist, Geschichten
schreiben kann. Sie weiß viel, und sie erzählt noch mehr, als sie weiß; nnr von
einem Gegenstande schweigt sie beharrlich: von der ersten Liebe.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Unhaltbare Fiktionen.

Seit jener Niederlage des Christentums, die ge¬
wöhnlich als sein Sieg bezeichnet wird, leidet die Kulturwelt an dem ungeheuern
Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, der in unsern Tagen so weit ge¬
diehen ist, daß sogar das christliche Ideal nur uoch dem Namen nach unser
Ideal ist, und daß Kierkegaard berechtigt war, die Christlichkeit der Christenheit
eine Selbsttäuschung zu nennen. Voltaire hat diese Selbstbelügung — z. B. im
Ingenu — mit blutigem Hohne gegeißelt, und Hartpole Lecky hat mit wissenschaft¬
lichem Ernst die tiefe Schädigung dargelegt, die sie dem Charakter der europäische»
Völker zugefügt hat; sie hat ihn mit UnWahrhaftigkeit durchtränkt und die edle,
stolze, männliche Offenheit und Wahrhaftigkeit der Alten Verbanne. Der wahrhaf¬
tige und offne Luther hat diesen Zustand zwar für seine Person überwunden, aber
für die christlichen Völker konnte er ihn nicht überwinden, weil ihn die Ereignisse
von seiner ursprünglichen Absicht, inmitten der getauften Heidenschaft eine Ge¬
meinde der wirklich Gläubigen zu sammeln, abgedrängt und zur Gründung neuer
Stantskirchen gezwungen haben. Ohne Zweifel wird diese Schädigung der Völker,
die doch im Rate der Vorsehung beschlossen sein muß, von anderweitigen Vorteilen
überwogen, indes mit diesen haben wir es heute uicht zu thun, sondern nur mit
einem andern Nachteil, der aus jenem ersten fließt, mit den Verlegenheiten, die
die sogenannte Christlichkeit den Politikern bereitet. Nachdem man einmal bis zu der
verkehrten Idee des christlichen Staats fortgeschritten war. konnte es nicht fehlen,
daß schließlich auch an die Politik das Ansinnen gestellt wurde, sie müsse christlich
sein. Hölzernes Eisen, kühlendes Feuer, lebendige Leiche, steinerner Geist — was
immer man sich ungereimtes denken mag, es wird kaum ein so widerspruchsvolles
und unmögliches Ding sein wie die christliche Politik. Denn das Wesen der christ¬
lichen Gesinnung besteht in der Selbstverleugnung und opferwilligen Liebe, in dem
Verzicht auf irdische» Genuß und Besitz um des Himmelreichs willen, die
Politik aber ist der geordnete Kampf der irdischen Interessen. So wird denu dem
Kladderadatsch täglich Stoff geliefert zu Satiren gleich der ans den Reichsboten


Grenzboten I 18S6 80
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[0641] Maßgebliches und Unmaßgebliches dabei ganz, daß sie diesen Vorsah schon hundertmal gefaßt und niemals aus¬ geführt hatte. So war es auch diesmal; uach acht Tagen gab sie wirklich den Kaffee und verlästerte den Grafen nach allen Regeln der Kunst. Er machte sich nichts daraus; ihm war das Leben sehr gleichgültig geworden, obgleich er es mit einer gewissen vornehmen Wurde weiter trug. Vor einigen Jahren ist er gestorben, wahrend Frau von Zehleneck noch lebt. Sie ist noch ganz wie früher, bis auf die Veränderungen, die das Alter um ihr hervorgebracht hat. Niemand liebt sie; jedermann aber fürchtet sie. Sie gehört zu den Leuten, von denen man, wie der landläufige Ausdruck ist, Geschichten schreiben kann. Sie weiß viel, und sie erzählt noch mehr, als sie weiß; nnr von einem Gegenstande schweigt sie beharrlich: von der ersten Liebe. Maßgebliches und Unmaßgebliches Unhaltbare Fiktionen. Seit jener Niederlage des Christentums, die ge¬ wöhnlich als sein Sieg bezeichnet wird, leidet die Kulturwelt an dem ungeheuern Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, der in unsern Tagen so weit ge¬ diehen ist, daß sogar das christliche Ideal nur uoch dem Namen nach unser Ideal ist, und daß Kierkegaard berechtigt war, die Christlichkeit der Christenheit eine Selbsttäuschung zu nennen. Voltaire hat diese Selbstbelügung — z. B. im Ingenu — mit blutigem Hohne gegeißelt, und Hartpole Lecky hat mit wissenschaft¬ lichem Ernst die tiefe Schädigung dargelegt, die sie dem Charakter der europäische» Völker zugefügt hat; sie hat ihn mit UnWahrhaftigkeit durchtränkt und die edle, stolze, männliche Offenheit und Wahrhaftigkeit der Alten Verbanne. Der wahrhaf¬ tige und offne Luther hat diesen Zustand zwar für seine Person überwunden, aber für die christlichen Völker konnte er ihn nicht überwinden, weil ihn die Ereignisse von seiner ursprünglichen Absicht, inmitten der getauften Heidenschaft eine Ge¬ meinde der wirklich Gläubigen zu sammeln, abgedrängt und zur Gründung neuer Stantskirchen gezwungen haben. Ohne Zweifel wird diese Schädigung der Völker, die doch im Rate der Vorsehung beschlossen sein muß, von anderweitigen Vorteilen überwogen, indes mit diesen haben wir es heute uicht zu thun, sondern nur mit einem andern Nachteil, der aus jenem ersten fließt, mit den Verlegenheiten, die die sogenannte Christlichkeit den Politikern bereitet. Nachdem man einmal bis zu der verkehrten Idee des christlichen Staats fortgeschritten war. konnte es nicht fehlen, daß schließlich auch an die Politik das Ansinnen gestellt wurde, sie müsse christlich sein. Hölzernes Eisen, kühlendes Feuer, lebendige Leiche, steinerner Geist — was immer man sich ungereimtes denken mag, es wird kaum ein so widerspruchsvolles und unmögliches Ding sein wie die christliche Politik. Denn das Wesen der christ¬ lichen Gesinnung besteht in der Selbstverleugnung und opferwilligen Liebe, in dem Verzicht auf irdische» Genuß und Besitz um des Himmelreichs willen, die Politik aber ist der geordnete Kampf der irdischen Interessen. So wird denu dem Kladderadatsch täglich Stoff geliefert zu Satiren gleich der ans den Reichsboten Grenzboten I 18S6 80

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/641>, abgerufen am 19.05.2024.