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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Adolf wilbrandt

der bairischen, württembergischen und sächsischen Truppen in Schlesien und
über die Beschaffenheit der preußischen Soldaten vor den Befreiungskriegen,
ferner die Schilderung der Erhebung des Volks, des Ausmarsches der jungen
Leute und der Stimmung im Lande, nachdem alles ausgerückt ist. Der Ver¬
fasser hat es verstanden, seines Vaters Erlebnisse und Wahrnehmungen auf
dem Marsche und in der Schlacht, z. B. bei Ligny, an den vorhandnen Be¬
richten zu prüfen und auf diese Weise höchst lebensvolle kleine Ausschnitte aus
dem großen Kriegsbilde zu geben. Es ist Geschichte im wahren Sinne des
Wortes. Die Alten haben sie erlebt und mit gemacht. Die Jungen sollen
sie nicht vergessen: Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt!




Adolf wilbrandt
(Schluß)

le größern erzählenden Werke Wilbrcmdts aus den siebziger und
achtziger Jahren haben als unterscheidendes Kennzeichen sämtlich
den Verzicht auf das Weltbild, wonach der Dichter in dem Roman
"Geister und Menschen" noch gestrebt hatte. Jetzt gewann die
Episode, freilich immer die Episode, die etwas zu bedeuten hatte,
den Sieg. Die Erkenntnis, daß nur in seltnen Fällen noch die Überfülle der
heutigen Welt in einem Ereignis, einem Lebensgang widerzuspiegeln ist, hatte
sich wie manchen andern anch Wilbrandt aufgedrängt. Auf die gute Stunde
wartend, in der auch die Episode wieder zum Epos wird, weil sich in ihr ein
allgemeines Menschenschicksal oder eine Empfindung verkörpert, die allen ein
Stück ihres Lebens scheint, schuf Wilbrandt inzwischen die Episodenromane
"Fridolins heimliche Ehe" (1876) und "Meister Amor" (1880) und eine ganze
Folge seiner besten Novellen. Eine gewisse Art der Kritik stellt von Zeit zu
Zeit Betrachtungen darüber an, wie ein Dramatiker überhaupt die Neigung
zur Erzählung verspüren könne, und folgert, daß entweder das dramatische
oder das epische Talent eines beidlebigen Dichters nicht echt sein könne.
Dieser Kritik gegenüber, die das dichterische Talent nur in der üblichen
Dreiteilung versteht, würde es ebenso vergeblich sein, sich auf das innere Gesetz
der Stoffe zu berufen, als an Schillers "Verbrecher aus Verlorner Ehre,"
an Kleists "Erdbeben von Chile" und "Michael Kohlhas," an Otto Ludwigs
"Zwischen Himmel und Erde" zu erinnern. Wohl aber wird der unbefangnere
Sinn leicht verstehen, daß gerade der dramatische Dichter der ungeheuern An-


Adolf wilbrandt

der bairischen, württembergischen und sächsischen Truppen in Schlesien und
über die Beschaffenheit der preußischen Soldaten vor den Befreiungskriegen,
ferner die Schilderung der Erhebung des Volks, des Ausmarsches der jungen
Leute und der Stimmung im Lande, nachdem alles ausgerückt ist. Der Ver¬
fasser hat es verstanden, seines Vaters Erlebnisse und Wahrnehmungen auf
dem Marsche und in der Schlacht, z. B. bei Ligny, an den vorhandnen Be¬
richten zu prüfen und auf diese Weise höchst lebensvolle kleine Ausschnitte aus
dem großen Kriegsbilde zu geben. Es ist Geschichte im wahren Sinne des
Wortes. Die Alten haben sie erlebt und mit gemacht. Die Jungen sollen
sie nicht vergessen: Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt!




Adolf wilbrandt
(Schluß)

le größern erzählenden Werke Wilbrcmdts aus den siebziger und
achtziger Jahren haben als unterscheidendes Kennzeichen sämtlich
den Verzicht auf das Weltbild, wonach der Dichter in dem Roman
„Geister und Menschen" noch gestrebt hatte. Jetzt gewann die
Episode, freilich immer die Episode, die etwas zu bedeuten hatte,
den Sieg. Die Erkenntnis, daß nur in seltnen Fällen noch die Überfülle der
heutigen Welt in einem Ereignis, einem Lebensgang widerzuspiegeln ist, hatte
sich wie manchen andern anch Wilbrandt aufgedrängt. Auf die gute Stunde
wartend, in der auch die Episode wieder zum Epos wird, weil sich in ihr ein
allgemeines Menschenschicksal oder eine Empfindung verkörpert, die allen ein
Stück ihres Lebens scheint, schuf Wilbrandt inzwischen die Episodenromane
„Fridolins heimliche Ehe" (1876) und „Meister Amor" (1880) und eine ganze
Folge seiner besten Novellen. Eine gewisse Art der Kritik stellt von Zeit zu
Zeit Betrachtungen darüber an, wie ein Dramatiker überhaupt die Neigung
zur Erzählung verspüren könne, und folgert, daß entweder das dramatische
oder das epische Talent eines beidlebigen Dichters nicht echt sein könne.
Dieser Kritik gegenüber, die das dichterische Talent nur in der üblichen
Dreiteilung versteht, würde es ebenso vergeblich sein, sich auf das innere Gesetz
der Stoffe zu berufen, als an Schillers „Verbrecher aus Verlorner Ehre,"
an Kleists „Erdbeben von Chile" und „Michael Kohlhas," an Otto Ludwigs
„Zwischen Himmel und Erde" zu erinnern. Wohl aber wird der unbefangnere
Sinn leicht verstehen, daß gerade der dramatische Dichter der ungeheuern An-


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[0135] Adolf wilbrandt der bairischen, württembergischen und sächsischen Truppen in Schlesien und über die Beschaffenheit der preußischen Soldaten vor den Befreiungskriegen, ferner die Schilderung der Erhebung des Volks, des Ausmarsches der jungen Leute und der Stimmung im Lande, nachdem alles ausgerückt ist. Der Ver¬ fasser hat es verstanden, seines Vaters Erlebnisse und Wahrnehmungen auf dem Marsche und in der Schlacht, z. B. bei Ligny, an den vorhandnen Be¬ richten zu prüfen und auf diese Weise höchst lebensvolle kleine Ausschnitte aus dem großen Kriegsbilde zu geben. Es ist Geschichte im wahren Sinne des Wortes. Die Alten haben sie erlebt und mit gemacht. Die Jungen sollen sie nicht vergessen: Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt! Adolf wilbrandt (Schluß) le größern erzählenden Werke Wilbrcmdts aus den siebziger und achtziger Jahren haben als unterscheidendes Kennzeichen sämtlich den Verzicht auf das Weltbild, wonach der Dichter in dem Roman „Geister und Menschen" noch gestrebt hatte. Jetzt gewann die Episode, freilich immer die Episode, die etwas zu bedeuten hatte, den Sieg. Die Erkenntnis, daß nur in seltnen Fällen noch die Überfülle der heutigen Welt in einem Ereignis, einem Lebensgang widerzuspiegeln ist, hatte sich wie manchen andern anch Wilbrandt aufgedrängt. Auf die gute Stunde wartend, in der auch die Episode wieder zum Epos wird, weil sich in ihr ein allgemeines Menschenschicksal oder eine Empfindung verkörpert, die allen ein Stück ihres Lebens scheint, schuf Wilbrandt inzwischen die Episodenromane „Fridolins heimliche Ehe" (1876) und „Meister Amor" (1880) und eine ganze Folge seiner besten Novellen. Eine gewisse Art der Kritik stellt von Zeit zu Zeit Betrachtungen darüber an, wie ein Dramatiker überhaupt die Neigung zur Erzählung verspüren könne, und folgert, daß entweder das dramatische oder das epische Talent eines beidlebigen Dichters nicht echt sein könne. Dieser Kritik gegenüber, die das dichterische Talent nur in der üblichen Dreiteilung versteht, würde es ebenso vergeblich sein, sich auf das innere Gesetz der Stoffe zu berufen, als an Schillers „Verbrecher aus Verlorner Ehre," an Kleists „Erdbeben von Chile" und „Michael Kohlhas," an Otto Ludwigs „Zwischen Himmel und Erde" zu erinnern. Wohl aber wird der unbefangnere Sinn leicht verstehen, daß gerade der dramatische Dichter der ungeheuern An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/135>, abgerufen am 27.04.2024.