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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der russische ^ozialismus

er russische Sozialismus ist deswegen interessant, weil er un¬
gemein deutlich den Charakter aller russischen Kulturerscheinnngeu
zeigt, den eines Feuerwerks, das wirkungslos verpufft. Gegen¬
wärtig scheint er nur noch in den Köpfen einsamer Grübler zu
spuken. Zu einem Rückblick auf die Bewegung benutzen wir zwer
Schriften, die einander ergänzen, indem die eine einen Vertreter der bürger¬
lichen Gesellschaft, die andre einen Sozialisten zum Verfasser hat: Die sozial¬
politischen Ideen Alexander Herzens. Von Dr. Otto von Sperber
(Leipzig. Duncker und Humblot, 1894) und N. G. Tschernischewsky. Eine
Utterarhistorische Studie von G. Plechanow. Mit einem Porträt Tscherm-
schewskys (Stuttgart, I. H. W. Dietz, 1894).

Politische Erwägungen -- welche? mag man in den beideu genannten
Schriften und in dem Artikel "Bauerubefrciung" des Handwörterbuchs der
Staatswissenschaften nachsehen -- hatten die Versklavung der Bauern, d.h.
von neun Zehnteln der Bewohner Rußlands, bewirkt, politische Erwägungen
führten daun in unsrer Zeit zu ihrer Befreiung. Die Unhaltbarst der Zu¬
stände in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts erzeugte eine Gühruug, die
den revolutionären Sozialismus und deu Nihilismus hervorrief; auch dieser
Bewegung wurde durch den Widerspruch zwischen der von Peter dem Großen
dem Volke eingepflanzten europäischen Kultur nud der daneben fortbestehenden
orientalischen Lebens- und Denkungsart der eigentümliche russische Charakter
aufgeprägt. Wie es in einem Lande zugehen mußte, wo Katharina II. 800000,
Paul 600000 "Seelen" an Günstlinge verschenken konnte (Handwörterbuch.
2. Band, S. 228). das läßt sich leicht vorstellen, und mau wundert sich nicht,
bei Plechanow zu lesen, daß Rußland im siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hundert wirkliche Bauernkriege, im neunzehnten aber, besonders unter Nikolaus,


Grenzboten II 1896 19


Der russische ^ozialismus

er russische Sozialismus ist deswegen interessant, weil er un¬
gemein deutlich den Charakter aller russischen Kulturerscheinnngeu
zeigt, den eines Feuerwerks, das wirkungslos verpufft. Gegen¬
wärtig scheint er nur noch in den Köpfen einsamer Grübler zu
spuken. Zu einem Rückblick auf die Bewegung benutzen wir zwer
Schriften, die einander ergänzen, indem die eine einen Vertreter der bürger¬
lichen Gesellschaft, die andre einen Sozialisten zum Verfasser hat: Die sozial¬
politischen Ideen Alexander Herzens. Von Dr. Otto von Sperber
(Leipzig. Duncker und Humblot, 1894) und N. G. Tschernischewsky. Eine
Utterarhistorische Studie von G. Plechanow. Mit einem Porträt Tscherm-
schewskys (Stuttgart, I. H. W. Dietz, 1894).

Politische Erwägungen — welche? mag man in den beideu genannten
Schriften und in dem Artikel „Bauerubefrciung" des Handwörterbuchs der
Staatswissenschaften nachsehen — hatten die Versklavung der Bauern, d.h.
von neun Zehnteln der Bewohner Rußlands, bewirkt, politische Erwägungen
führten daun in unsrer Zeit zu ihrer Befreiung. Die Unhaltbarst der Zu¬
stände in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts erzeugte eine Gühruug, die
den revolutionären Sozialismus und deu Nihilismus hervorrief; auch dieser
Bewegung wurde durch den Widerspruch zwischen der von Peter dem Großen
dem Volke eingepflanzten europäischen Kultur nud der daneben fortbestehenden
orientalischen Lebens- und Denkungsart der eigentümliche russische Charakter
aufgeprägt. Wie es in einem Lande zugehen mußte, wo Katharina II. 800000,
Paul 600000 „Seelen" an Günstlinge verschenken konnte (Handwörterbuch.
2. Band, S. 228). das läßt sich leicht vorstellen, und mau wundert sich nicht,
bei Plechanow zu lesen, daß Rußland im siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hundert wirkliche Bauernkriege, im neunzehnten aber, besonders unter Nikolaus,


Grenzboten II 1896 19
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[0153] [Abbildung] Der russische ^ozialismus er russische Sozialismus ist deswegen interessant, weil er un¬ gemein deutlich den Charakter aller russischen Kulturerscheinnngeu zeigt, den eines Feuerwerks, das wirkungslos verpufft. Gegen¬ wärtig scheint er nur noch in den Köpfen einsamer Grübler zu spuken. Zu einem Rückblick auf die Bewegung benutzen wir zwer Schriften, die einander ergänzen, indem die eine einen Vertreter der bürger¬ lichen Gesellschaft, die andre einen Sozialisten zum Verfasser hat: Die sozial¬ politischen Ideen Alexander Herzens. Von Dr. Otto von Sperber (Leipzig. Duncker und Humblot, 1894) und N. G. Tschernischewsky. Eine Utterarhistorische Studie von G. Plechanow. Mit einem Porträt Tscherm- schewskys (Stuttgart, I. H. W. Dietz, 1894). Politische Erwägungen — welche? mag man in den beideu genannten Schriften und in dem Artikel „Bauerubefrciung" des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften nachsehen — hatten die Versklavung der Bauern, d.h. von neun Zehnteln der Bewohner Rußlands, bewirkt, politische Erwägungen führten daun in unsrer Zeit zu ihrer Befreiung. Die Unhaltbarst der Zu¬ stände in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts erzeugte eine Gühruug, die den revolutionären Sozialismus und deu Nihilismus hervorrief; auch dieser Bewegung wurde durch den Widerspruch zwischen der von Peter dem Großen dem Volke eingepflanzten europäischen Kultur nud der daneben fortbestehenden orientalischen Lebens- und Denkungsart der eigentümliche russische Charakter aufgeprägt. Wie es in einem Lande zugehen mußte, wo Katharina II. 800000, Paul 600000 „Seelen" an Günstlinge verschenken konnte (Handwörterbuch. 2. Band, S. 228). das läßt sich leicht vorstellen, und mau wundert sich nicht, bei Plechanow zu lesen, daß Rußland im siebzehnten und achtzehnten Jahr¬ hundert wirkliche Bauernkriege, im neunzehnten aber, besonders unter Nikolaus, Grenzboten II 1896 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/153>, abgerufen am 27.04.2024.