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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der Vrakelgraf

schlaggebende ist doch die veränderte Auffassung der Gesellschaft; wir Modernen
sehen immer den großen düstern Hintergrund, auf dem sich unsre Geschicke ab¬
spielen, wir fürchten, daß es wie eine Niesenfaust daraus hervorgreift, uns
faßt und zerschmettert. Daher denn auch der Pessimismus unsrer Zeit und
ebenso das Anwachsen des Mystizismus. Faßt man das soziale Ringen unsrer
Tage als das Streben, dem "Ungeheuer" Gesellschaft, das wie Saturn seine
eignen Kinder verschlingt, seine Gewalt über das Einzelgeschick zu beschränken,
zunächst sie genau zu bestimmen (und die Sozialdemokraten werden sich diese
Auffassung schon gefallen lassen müssen), so würde es sich bei dem Kampf für
den Schutz der Persönlichkeit vor allem auch um die Befreiung dieser von
einer beirrenden und bedrückenden Anschauung des Begriffs Gesellschaft handeln.
Wir müssen der Gesellschaft wieder nicht als bange Sklaven, sondern als freie
Männer gegenübertreten, die sich als ihre vollberechtigter Glieder und den in
der menschlichen Daseinsordnuug zur Wirkung kommenden Naturgewalten ge¬
wachsen fühlen, und zwar muß das nicht bloß für Einzelne, sondern für alle
errungen werden. Dann wird es zwar immer noch kein besondres Recht
der Persönlichkeit geben, aber das "Herdentier" wird Mensch geworden sein.




Der Grakelgraf

s war in einem der bessern Absteigequartiere ans der Behrenstraße.
An der großen Tafel auf der Hausflur fand ich angeschrieben: "Graf
Trask aus Sudermannland." Es ist leicht begreiflich, daß diese In¬
schrift meine lebhafteste Teilnahme erregte. Den berühmten Reisenden
kennen zu lernen, gewährte gewiß das Zusammenleben in demselben
Gasthause Gelegenheit. Und in der That, schon der nächste Morgen
brachte mich in die freundlichste Berührung mit ihm.

Es wird mir vielleicht nicht verdacht werden, daß ich mich vor dem Schlafen¬
gehen bei dem Oberkellner nach dem Mitbewohner des Gasthauses erkundigte. Ich
hörte da zu meiner nicht geringen Verwunderung, daß der teure Graf ein nicht
seltner Gast auf der Behrenstraße sei. Er werde häufig wegen seiner Welterfahrung
und Menschenkenntnis von aller Welt in den schwierigsten Fällen um Rat an¬
gegangen. Gegen Erstattung der baren Auslagen zeige er sich zu jeder Art vou
Auskunft bereit. Augenblicklich weile er in Berlin, um die verwickelten Familien¬
verhältnisse eines reichen Weinhändlers zu entwirren. Sobald seine Ankunft durch
die Fremdenlisten bekannt werde, komme eine Menge von Rat- und Hilfesuchenden, die
die billige Gelegenheit benutzen wollten. In dem diesmaligen Falle müsse der
Weinhändler für die Tagesunkosten aufkommen. Wer sonst noch von der Anwesen¬
heit des Grafen profitire, komme billig weg. Ich mußte unwillkürlich an den
schlesischen Grafen mit dem unaussprechlichen polnischen Namen denken, der seine
Muße in ähnlicher Weise mit derselben Selbstlosigkeit in den Dienst wasserloser


Der Vrakelgraf

schlaggebende ist doch die veränderte Auffassung der Gesellschaft; wir Modernen
sehen immer den großen düstern Hintergrund, auf dem sich unsre Geschicke ab¬
spielen, wir fürchten, daß es wie eine Niesenfaust daraus hervorgreift, uns
faßt und zerschmettert. Daher denn auch der Pessimismus unsrer Zeit und
ebenso das Anwachsen des Mystizismus. Faßt man das soziale Ringen unsrer
Tage als das Streben, dem „Ungeheuer" Gesellschaft, das wie Saturn seine
eignen Kinder verschlingt, seine Gewalt über das Einzelgeschick zu beschränken,
zunächst sie genau zu bestimmen (und die Sozialdemokraten werden sich diese
Auffassung schon gefallen lassen müssen), so würde es sich bei dem Kampf für
den Schutz der Persönlichkeit vor allem auch um die Befreiung dieser von
einer beirrenden und bedrückenden Anschauung des Begriffs Gesellschaft handeln.
Wir müssen der Gesellschaft wieder nicht als bange Sklaven, sondern als freie
Männer gegenübertreten, die sich als ihre vollberechtigter Glieder und den in
der menschlichen Daseinsordnuug zur Wirkung kommenden Naturgewalten ge¬
wachsen fühlen, und zwar muß das nicht bloß für Einzelne, sondern für alle
errungen werden. Dann wird es zwar immer noch kein besondres Recht
der Persönlichkeit geben, aber das „Herdentier" wird Mensch geworden sein.




Der Grakelgraf

s war in einem der bessern Absteigequartiere ans der Behrenstraße.
An der großen Tafel auf der Hausflur fand ich angeschrieben: „Graf
Trask aus Sudermannland." Es ist leicht begreiflich, daß diese In¬
schrift meine lebhafteste Teilnahme erregte. Den berühmten Reisenden
kennen zu lernen, gewährte gewiß das Zusammenleben in demselben
Gasthause Gelegenheit. Und in der That, schon der nächste Morgen
brachte mich in die freundlichste Berührung mit ihm.

Es wird mir vielleicht nicht verdacht werden, daß ich mich vor dem Schlafen¬
gehen bei dem Oberkellner nach dem Mitbewohner des Gasthauses erkundigte. Ich
hörte da zu meiner nicht geringen Verwunderung, daß der teure Graf ein nicht
seltner Gast auf der Behrenstraße sei. Er werde häufig wegen seiner Welterfahrung
und Menschenkenntnis von aller Welt in den schwierigsten Fällen um Rat an¬
gegangen. Gegen Erstattung der baren Auslagen zeige er sich zu jeder Art vou
Auskunft bereit. Augenblicklich weile er in Berlin, um die verwickelten Familien¬
verhältnisse eines reichen Weinhändlers zu entwirren. Sobald seine Ankunft durch
die Fremdenlisten bekannt werde, komme eine Menge von Rat- und Hilfesuchenden, die
die billige Gelegenheit benutzen wollten. In dem diesmaligen Falle müsse der
Weinhändler für die Tagesunkosten aufkommen. Wer sonst noch von der Anwesen¬
heit des Grafen profitire, komme billig weg. Ich mußte unwillkürlich an den
schlesischen Grafen mit dem unaussprechlichen polnischen Namen denken, der seine
Muße in ähnlicher Weise mit derselben Selbstlosigkeit in den Dienst wasserloser


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[0222] Der Vrakelgraf schlaggebende ist doch die veränderte Auffassung der Gesellschaft; wir Modernen sehen immer den großen düstern Hintergrund, auf dem sich unsre Geschicke ab¬ spielen, wir fürchten, daß es wie eine Niesenfaust daraus hervorgreift, uns faßt und zerschmettert. Daher denn auch der Pessimismus unsrer Zeit und ebenso das Anwachsen des Mystizismus. Faßt man das soziale Ringen unsrer Tage als das Streben, dem „Ungeheuer" Gesellschaft, das wie Saturn seine eignen Kinder verschlingt, seine Gewalt über das Einzelgeschick zu beschränken, zunächst sie genau zu bestimmen (und die Sozialdemokraten werden sich diese Auffassung schon gefallen lassen müssen), so würde es sich bei dem Kampf für den Schutz der Persönlichkeit vor allem auch um die Befreiung dieser von einer beirrenden und bedrückenden Anschauung des Begriffs Gesellschaft handeln. Wir müssen der Gesellschaft wieder nicht als bange Sklaven, sondern als freie Männer gegenübertreten, die sich als ihre vollberechtigter Glieder und den in der menschlichen Daseinsordnuug zur Wirkung kommenden Naturgewalten ge¬ wachsen fühlen, und zwar muß das nicht bloß für Einzelne, sondern für alle errungen werden. Dann wird es zwar immer noch kein besondres Recht der Persönlichkeit geben, aber das „Herdentier" wird Mensch geworden sein. Der Grakelgraf s war in einem der bessern Absteigequartiere ans der Behrenstraße. An der großen Tafel auf der Hausflur fand ich angeschrieben: „Graf Trask aus Sudermannland." Es ist leicht begreiflich, daß diese In¬ schrift meine lebhafteste Teilnahme erregte. Den berühmten Reisenden kennen zu lernen, gewährte gewiß das Zusammenleben in demselben Gasthause Gelegenheit. Und in der That, schon der nächste Morgen brachte mich in die freundlichste Berührung mit ihm. Es wird mir vielleicht nicht verdacht werden, daß ich mich vor dem Schlafen¬ gehen bei dem Oberkellner nach dem Mitbewohner des Gasthauses erkundigte. Ich hörte da zu meiner nicht geringen Verwunderung, daß der teure Graf ein nicht seltner Gast auf der Behrenstraße sei. Er werde häufig wegen seiner Welterfahrung und Menschenkenntnis von aller Welt in den schwierigsten Fällen um Rat an¬ gegangen. Gegen Erstattung der baren Auslagen zeige er sich zu jeder Art vou Auskunft bereit. Augenblicklich weile er in Berlin, um die verwickelten Familien¬ verhältnisse eines reichen Weinhändlers zu entwirren. Sobald seine Ankunft durch die Fremdenlisten bekannt werde, komme eine Menge von Rat- und Hilfesuchenden, die die billige Gelegenheit benutzen wollten. In dem diesmaligen Falle müsse der Weinhändler für die Tagesunkosten aufkommen. Wer sonst noch von der Anwesen¬ heit des Grafen profitire, komme billig weg. Ich mußte unwillkürlich an den schlesischen Grafen mit dem unaussprechlichen polnischen Namen denken, der seine Muße in ähnlicher Weise mit derselben Selbstlosigkeit in den Dienst wasserloser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/222>, abgerufen am 28.04.2024.