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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates
Karl Aannenberg") Von

or etwa hundertzwanzig Jahren gab Goethe der Herzensstimmung
des deutschen Philisters mit den Worten Ausdruck:

Seitdem haben sich die Zeiten gewaltig geändert. Jetzt ist uns die Türkei
nicht mehr fern und fremd, im Gegenteil durch so manches Band mit uns
verbunden. Wurzeln doch Moltkes erste große Erinnerungen in ihr; hat
doch Bismcircks staatsmännische Kunst auf dem Berliner Kongreß die orienta¬
lischen Wirren geordnet; hat doch auch neuerdings (1889) unser Kaiser dem
Sultan einen denkwürdigen Besuch abgestattet; ist doch vor allem die neue
Organisation des türkischen Heeres ein Werk deutscher Offiziere, und ist es
doch auch deutsche Thatkraft gewesen, die den Ausbau der anatolischen Bahnen
ins Werk gesetzt hat, ein Unternehmen von der größten Bedeutung für die
Zukunft, in militärischer wie in wirtschaftlicher Beziehung; wird doch selbst
einer deutschen Kolonisation in der Nähe der anatolischen Bahn seit einer
Reihe von Jahren von ernsten Männern das Wort geredet; nicht zu vergessen
die epochemachenden Erfolge deutscher Gelehrten auf diesem altklassischer Boden,
vor allem Schliemcmns Ausgrabungen in Troja und Humanus Aufdeckung
von Pergamon!

Anders als vor hundert Jahren blicken wir daher jetzt auch in Deutsch¬
land auf die Dinge, die eine Zeit lang wieder die Augen ganz Europas,
ja der ganzen Welt auf die Türkei gelenkt haben, die armenischen Be¬
freiungskampfe. Nach und nach hat sich ein Najcchvvlk nach dem andern von
der osmanischen Zwingherrschaft befreit. Sollte dies der armenischen "Nation"
(türkisch nMet), wie sie sich stolz nennt, nicht anch gelingen können? In ganz
Europa hat sich ja in unserm Jahrhundert, wohin man blickt, trotz Kosmo-
politismus und Internationale ein gesunder und kräftiger nationaler Zug Bahn
gebrochen, aus dem ja auch die deutsche Einheit geboren wurde. Zwar die



°) Premierleulncmt im Thüringischen Feldartillerieregiment Ur. 19.


Die Lage des türkischen Staates
Karl Aannenberg") Von

or etwa hundertzwanzig Jahren gab Goethe der Herzensstimmung
des deutschen Philisters mit den Worten Ausdruck:

Seitdem haben sich die Zeiten gewaltig geändert. Jetzt ist uns die Türkei
nicht mehr fern und fremd, im Gegenteil durch so manches Band mit uns
verbunden. Wurzeln doch Moltkes erste große Erinnerungen in ihr; hat
doch Bismcircks staatsmännische Kunst auf dem Berliner Kongreß die orienta¬
lischen Wirren geordnet; hat doch auch neuerdings (1889) unser Kaiser dem
Sultan einen denkwürdigen Besuch abgestattet; ist doch vor allem die neue
Organisation des türkischen Heeres ein Werk deutscher Offiziere, und ist es
doch auch deutsche Thatkraft gewesen, die den Ausbau der anatolischen Bahnen
ins Werk gesetzt hat, ein Unternehmen von der größten Bedeutung für die
Zukunft, in militärischer wie in wirtschaftlicher Beziehung; wird doch selbst
einer deutschen Kolonisation in der Nähe der anatolischen Bahn seit einer
Reihe von Jahren von ernsten Männern das Wort geredet; nicht zu vergessen
die epochemachenden Erfolge deutscher Gelehrten auf diesem altklassischer Boden,
vor allem Schliemcmns Ausgrabungen in Troja und Humanus Aufdeckung
von Pergamon!

Anders als vor hundert Jahren blicken wir daher jetzt auch in Deutsch¬
land auf die Dinge, die eine Zeit lang wieder die Augen ganz Europas,
ja der ganzen Welt auf die Türkei gelenkt haben, die armenischen Be¬
freiungskampfe. Nach und nach hat sich ein Najcchvvlk nach dem andern von
der osmanischen Zwingherrschaft befreit. Sollte dies der armenischen „Nation"
(türkisch nMet), wie sie sich stolz nennt, nicht anch gelingen können? In ganz
Europa hat sich ja in unserm Jahrhundert, wohin man blickt, trotz Kosmo-
politismus und Internationale ein gesunder und kräftiger nationaler Zug Bahn
gebrochen, aus dem ja auch die deutsche Einheit geboren wurde. Zwar die



°) Premierleulncmt im Thüringischen Feldartillerieregiment Ur. 19.
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[0269] [Abbildung] Die Lage des türkischen Staates Karl Aannenberg") Von or etwa hundertzwanzig Jahren gab Goethe der Herzensstimmung des deutschen Philisters mit den Worten Ausdruck: Seitdem haben sich die Zeiten gewaltig geändert. Jetzt ist uns die Türkei nicht mehr fern und fremd, im Gegenteil durch so manches Band mit uns verbunden. Wurzeln doch Moltkes erste große Erinnerungen in ihr; hat doch Bismcircks staatsmännische Kunst auf dem Berliner Kongreß die orienta¬ lischen Wirren geordnet; hat doch auch neuerdings (1889) unser Kaiser dem Sultan einen denkwürdigen Besuch abgestattet; ist doch vor allem die neue Organisation des türkischen Heeres ein Werk deutscher Offiziere, und ist es doch auch deutsche Thatkraft gewesen, die den Ausbau der anatolischen Bahnen ins Werk gesetzt hat, ein Unternehmen von der größten Bedeutung für die Zukunft, in militärischer wie in wirtschaftlicher Beziehung; wird doch selbst einer deutschen Kolonisation in der Nähe der anatolischen Bahn seit einer Reihe von Jahren von ernsten Männern das Wort geredet; nicht zu vergessen die epochemachenden Erfolge deutscher Gelehrten auf diesem altklassischer Boden, vor allem Schliemcmns Ausgrabungen in Troja und Humanus Aufdeckung von Pergamon! Anders als vor hundert Jahren blicken wir daher jetzt auch in Deutsch¬ land auf die Dinge, die eine Zeit lang wieder die Augen ganz Europas, ja der ganzen Welt auf die Türkei gelenkt haben, die armenischen Be¬ freiungskampfe. Nach und nach hat sich ein Najcchvvlk nach dem andern von der osmanischen Zwingherrschaft befreit. Sollte dies der armenischen „Nation" (türkisch nMet), wie sie sich stolz nennt, nicht anch gelingen können? In ganz Europa hat sich ja in unserm Jahrhundert, wohin man blickt, trotz Kosmo- politismus und Internationale ein gesunder und kräftiger nationaler Zug Bahn gebrochen, aus dem ja auch die deutsche Einheit geboren wurde. Zwar die °) Premierleulncmt im Thüringischen Feldartillerieregiment Ur. 19.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/269>, abgerufen am 27.04.2024.