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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Man mag die amtlichen Auskünfte, die über den Erfolg der genossen¬
schaftlichen Selbstverwaltung im österreichischen Handwerk vorliegen, betrachten
von welcher Seite man will: nicht ein Lichtblick ist ihnen abzugewinnen, das
Ergebnis bleibt ein vollständiger Mißerfolg.

Nur arge Leichtfertigkeit wird dieses Ergebnis unbeachtet lassen können,
wenn es sich in Deutschland um einen ähnlichen Versuch handelt. Die Frage,
wie weit der heutige Handwerkerstand in Deutschland zu einer fruchtbaren
Selbstverwaltung fähiger sei als der in Österreich, ist jedenfalls ernsthaft zu
stellen. Die deutsche Handwerkerbewegung läßt dnrch ihren bisherigen Verlauf
nicht darauf schließen, daß das der Fall sei. Aus ihre Führer ist auf keinen Fall
zu hören. Der Staat und sein grüner Tisch hat die "verdammte Pflicht und
Schuldigkeit," das besser zu wissen. Das wohlgemeinte Wort von dem ge¬
nossenschaftlichen Zusammenschluß der Berufsstände wird durch ehrfurchtsvolles,
kritikloses nachsprechen nimmermehr zum Allheilmittel für soziale Schäden
werden. Für das Handwerk von heute kann es, wenn der Staat die Zügel
nicht unerbittlich sest in der Hand behält, vielmehr zum schwersten Unsegen
geraten. Herr von Berlepsch hat die Pflicht, auch das besser zu wissen. Ob
er darnach handelt, das werden wir ja in der nächsten Zeit erfahren.


G. B.


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aß es ein Epos, wie es aus der Heldensage der Völker erwächst,
nicht in unsern Tagen geben kann, daß die Epopöe im Schul¬
sinn, wie sie die gelehrte Dichtung des siebzehnten und acht¬
zehnten Jahrhunderts erstrebte, an der Schwelle des zwanzigsten
Jahrhunderts eine Unmöglichkeit ist, wissen wir alle. Wir haben
auch oft genug gehört, daß der Roman an die Stelle der epischen Dichtung
getreten sei. Und Kritiker, die sich besonders viel ans ihre Modernität zu
gute thun, schreiben über die Besprechung von Romanen und Novellen "Epik,"
und über die Besprechung erzählender Gedichte "Lyrik." Nun ist es ja richtig,
daß in vielen neuern Dichtungen der letztern Art die lyrischen Elemente stark
überwiegen, und daß es in gewissen Fällen schwer wird, aus einem mit Be¬
schreibung und lyrischen Einlagen überladnen epischen Singsang den einfachen
Gang der Handlung herauszulösen. Dennoch muß es erlaubt sein, die noch
immer große Anzahl solcher Versuche getrennt von der Lyrik im engern Sinne
zu betrachten. Die viel verbreitete Vorstellung freilich, als ob das epische


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Man mag die amtlichen Auskünfte, die über den Erfolg der genossen¬
schaftlichen Selbstverwaltung im österreichischen Handwerk vorliegen, betrachten
von welcher Seite man will: nicht ein Lichtblick ist ihnen abzugewinnen, das
Ergebnis bleibt ein vollständiger Mißerfolg.

Nur arge Leichtfertigkeit wird dieses Ergebnis unbeachtet lassen können,
wenn es sich in Deutschland um einen ähnlichen Versuch handelt. Die Frage,
wie weit der heutige Handwerkerstand in Deutschland zu einer fruchtbaren
Selbstverwaltung fähiger sei als der in Österreich, ist jedenfalls ernsthaft zu
stellen. Die deutsche Handwerkerbewegung läßt dnrch ihren bisherigen Verlauf
nicht darauf schließen, daß das der Fall sei. Aus ihre Führer ist auf keinen Fall
zu hören. Der Staat und sein grüner Tisch hat die „verdammte Pflicht und
Schuldigkeit," das besser zu wissen. Das wohlgemeinte Wort von dem ge¬
nossenschaftlichen Zusammenschluß der Berufsstände wird durch ehrfurchtsvolles,
kritikloses nachsprechen nimmermehr zum Allheilmittel für soziale Schäden
werden. Für das Handwerk von heute kann es, wenn der Staat die Zügel
nicht unerbittlich sest in der Hand behält, vielmehr zum schwersten Unsegen
geraten. Herr von Berlepsch hat die Pflicht, auch das besser zu wissen. Ob
er darnach handelt, das werden wir ja in der nächsten Zeit erfahren.


G. B.


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aß es ein Epos, wie es aus der Heldensage der Völker erwächst,
nicht in unsern Tagen geben kann, daß die Epopöe im Schul¬
sinn, wie sie die gelehrte Dichtung des siebzehnten und acht¬
zehnten Jahrhunderts erstrebte, an der Schwelle des zwanzigsten
Jahrhunderts eine Unmöglichkeit ist, wissen wir alle. Wir haben
auch oft genug gehört, daß der Roman an die Stelle der epischen Dichtung
getreten sei. Und Kritiker, die sich besonders viel ans ihre Modernität zu
gute thun, schreiben über die Besprechung von Romanen und Novellen „Epik,"
und über die Besprechung erzählender Gedichte „Lyrik." Nun ist es ja richtig,
daß in vielen neuern Dichtungen der letztern Art die lyrischen Elemente stark
überwiegen, und daß es in gewissen Fällen schwer wird, aus einem mit Be¬
schreibung und lyrischen Einlagen überladnen epischen Singsang den einfachen
Gang der Handlung herauszulösen. Dennoch muß es erlaubt sein, die noch
immer große Anzahl solcher Versuche getrennt von der Lyrik im engern Sinne
zu betrachten. Die viel verbreitete Vorstellung freilich, als ob das epische


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[0374] Neue deutsche Lpik Man mag die amtlichen Auskünfte, die über den Erfolg der genossen¬ schaftlichen Selbstverwaltung im österreichischen Handwerk vorliegen, betrachten von welcher Seite man will: nicht ein Lichtblick ist ihnen abzugewinnen, das Ergebnis bleibt ein vollständiger Mißerfolg. Nur arge Leichtfertigkeit wird dieses Ergebnis unbeachtet lassen können, wenn es sich in Deutschland um einen ähnlichen Versuch handelt. Die Frage, wie weit der heutige Handwerkerstand in Deutschland zu einer fruchtbaren Selbstverwaltung fähiger sei als der in Österreich, ist jedenfalls ernsthaft zu stellen. Die deutsche Handwerkerbewegung läßt dnrch ihren bisherigen Verlauf nicht darauf schließen, daß das der Fall sei. Aus ihre Führer ist auf keinen Fall zu hören. Der Staat und sein grüner Tisch hat die „verdammte Pflicht und Schuldigkeit," das besser zu wissen. Das wohlgemeinte Wort von dem ge¬ nossenschaftlichen Zusammenschluß der Berufsstände wird durch ehrfurchtsvolles, kritikloses nachsprechen nimmermehr zum Allheilmittel für soziale Schäden werden. Für das Handwerk von heute kann es, wenn der Staat die Zügel nicht unerbittlich sest in der Hand behält, vielmehr zum schwersten Unsegen geraten. Herr von Berlepsch hat die Pflicht, auch das besser zu wissen. Ob er darnach handelt, das werden wir ja in der nächsten Zeit erfahren. G. B. Neue deutsche Gpik aß es ein Epos, wie es aus der Heldensage der Völker erwächst, nicht in unsern Tagen geben kann, daß die Epopöe im Schul¬ sinn, wie sie die gelehrte Dichtung des siebzehnten und acht¬ zehnten Jahrhunderts erstrebte, an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts eine Unmöglichkeit ist, wissen wir alle. Wir haben auch oft genug gehört, daß der Roman an die Stelle der epischen Dichtung getreten sei. Und Kritiker, die sich besonders viel ans ihre Modernität zu gute thun, schreiben über die Besprechung von Romanen und Novellen „Epik," und über die Besprechung erzählender Gedichte „Lyrik." Nun ist es ja richtig, daß in vielen neuern Dichtungen der letztern Art die lyrischen Elemente stark überwiegen, und daß es in gewissen Fällen schwer wird, aus einem mit Be¬ schreibung und lyrischen Einlagen überladnen epischen Singsang den einfachen Gang der Handlung herauszulösen. Dennoch muß es erlaubt sein, die noch immer große Anzahl solcher Versuche getrennt von der Lyrik im engern Sinne zu betrachten. Die viel verbreitete Vorstellung freilich, als ob das epische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/374>, abgerufen am 27.04.2024.