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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Reform des Strafprozesses

er Grundsatz der historischen Rechtsschule, daß das Recht nichts
gemachtes, sondern etwas gewordenes sei, daß das Gesetz nur der
Niederschlag sein solle von den im ganzen Volke geltenden Nechts-
überzeugungen, gemessen an den allgemeinen Staatsinteressen und
von der Rechtswissenschaft in die klarste und edelste Form ge¬
bracht, ist in Deutschland längst überwunden. Die Reichsgründung zwang
dazu, mit Hilfe der Gesetzgebung eine lange Reihe gemeinsamer Einrichtungen
ins Leben zu rufen. Bald aber schien man an dem Gesetzegeben um seiner
selbst willen Geschmack gefunden zu haben, und heute sind die Deutschen, die
Geheimräte so gut wie die Parlamentarier, allmählich in den Zustand des
Müllers geraten, der erschreckt ans dem Schlafe fuhr, wenn die Mühle einmal
plötzlich stillstehen wollte. Da die großen Gesetze nun so ziemlich alle unter
Dach gebracht sind, so kommen jetzt die "Reformen" an die Reihe. Ja die
neueste Weisheit scheint zu sein, daß die Gesetzgebung geradezu den Beruf
habe, auf unklaren und zweifelhaften Gebieten als Experiment zu wirken.
Unter diesen Umständen muß es fast Wunder nehmen, daß die deutschen Justiz¬
gesetze nun schon länger als sechzehn Jahre fast in unveränderter Gestalt
Gesetz geblieben sind, und es wurde in der That die höchste Zeit, zu einer
"Reform" zu "schreiten." Gerichtsverfassungsgesetz und Strafprozeßordnung
eröffnen den Reigen. Zu unserm Trost aber hören wir, daß auch an die
Zivilprozeßordnung und die Konkursordnung bereits bessernd Hand gelegt wird.
"

Der erste Anlauf zur "Verbesserung einer Reihe von Bestimmungen des
Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung wurde von den ver¬
bündeten Regierungen schon im Jahre 1886 unternommen. Der Reichstag ver¬
hielt sich ablehnend, brachte aber seinerseits die Entschädigung unschuldig Ver¬
urteilter -- eiuen hiermit uur lose in Verbindung stehenden Gegenstand -- und
die von der Reichsregierung damals bekämpfte Einführung der Berufung in


Grenzboten II 1396 55


Die Reform des Strafprozesses

er Grundsatz der historischen Rechtsschule, daß das Recht nichts
gemachtes, sondern etwas gewordenes sei, daß das Gesetz nur der
Niederschlag sein solle von den im ganzen Volke geltenden Nechts-
überzeugungen, gemessen an den allgemeinen Staatsinteressen und
von der Rechtswissenschaft in die klarste und edelste Form ge¬
bracht, ist in Deutschland längst überwunden. Die Reichsgründung zwang
dazu, mit Hilfe der Gesetzgebung eine lange Reihe gemeinsamer Einrichtungen
ins Leben zu rufen. Bald aber schien man an dem Gesetzegeben um seiner
selbst willen Geschmack gefunden zu haben, und heute sind die Deutschen, die
Geheimräte so gut wie die Parlamentarier, allmählich in den Zustand des
Müllers geraten, der erschreckt ans dem Schlafe fuhr, wenn die Mühle einmal
plötzlich stillstehen wollte. Da die großen Gesetze nun so ziemlich alle unter
Dach gebracht sind, so kommen jetzt die „Reformen" an die Reihe. Ja die
neueste Weisheit scheint zu sein, daß die Gesetzgebung geradezu den Beruf
habe, auf unklaren und zweifelhaften Gebieten als Experiment zu wirken.
Unter diesen Umständen muß es fast Wunder nehmen, daß die deutschen Justiz¬
gesetze nun schon länger als sechzehn Jahre fast in unveränderter Gestalt
Gesetz geblieben sind, und es wurde in der That die höchste Zeit, zu einer
„Reform" zu „schreiten." Gerichtsverfassungsgesetz und Strafprozeßordnung
eröffnen den Reigen. Zu unserm Trost aber hören wir, daß auch an die
Zivilprozeßordnung und die Konkursordnung bereits bessernd Hand gelegt wird.
"

Der erste Anlauf zur „Verbesserung einer Reihe von Bestimmungen des
Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung wurde von den ver¬
bündeten Regierungen schon im Jahre 1886 unternommen. Der Reichstag ver¬
hielt sich ablehnend, brachte aber seinerseits die Entschädigung unschuldig Ver¬
urteilter — eiuen hiermit uur lose in Verbindung stehenden Gegenstand — und
die von der Reichsregierung damals bekämpfte Einführung der Berufung in


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[0441] [Abbildung] Die Reform des Strafprozesses er Grundsatz der historischen Rechtsschule, daß das Recht nichts gemachtes, sondern etwas gewordenes sei, daß das Gesetz nur der Niederschlag sein solle von den im ganzen Volke geltenden Nechts- überzeugungen, gemessen an den allgemeinen Staatsinteressen und von der Rechtswissenschaft in die klarste und edelste Form ge¬ bracht, ist in Deutschland längst überwunden. Die Reichsgründung zwang dazu, mit Hilfe der Gesetzgebung eine lange Reihe gemeinsamer Einrichtungen ins Leben zu rufen. Bald aber schien man an dem Gesetzegeben um seiner selbst willen Geschmack gefunden zu haben, und heute sind die Deutschen, die Geheimräte so gut wie die Parlamentarier, allmählich in den Zustand des Müllers geraten, der erschreckt ans dem Schlafe fuhr, wenn die Mühle einmal plötzlich stillstehen wollte. Da die großen Gesetze nun so ziemlich alle unter Dach gebracht sind, so kommen jetzt die „Reformen" an die Reihe. Ja die neueste Weisheit scheint zu sein, daß die Gesetzgebung geradezu den Beruf habe, auf unklaren und zweifelhaften Gebieten als Experiment zu wirken. Unter diesen Umständen muß es fast Wunder nehmen, daß die deutschen Justiz¬ gesetze nun schon länger als sechzehn Jahre fast in unveränderter Gestalt Gesetz geblieben sind, und es wurde in der That die höchste Zeit, zu einer „Reform" zu „schreiten." Gerichtsverfassungsgesetz und Strafprozeßordnung eröffnen den Reigen. Zu unserm Trost aber hören wir, daß auch an die Zivilprozeßordnung und die Konkursordnung bereits bessernd Hand gelegt wird. " Der erste Anlauf zur „Verbesserung einer Reihe von Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung wurde von den ver¬ bündeten Regierungen schon im Jahre 1886 unternommen. Der Reichstag ver¬ hielt sich ablehnend, brachte aber seinerseits die Entschädigung unschuldig Ver¬ urteilter — eiuen hiermit uur lose in Verbindung stehenden Gegenstand — und die von der Reichsregierung damals bekämpfte Einführung der Berufung in Grenzboten II 1396 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/441>, abgerufen am 28.04.2024.