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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht zur Arbeit
Th. Brix von

le Arbeitsverhältnisse, auf die durch den großen Berliner Schneider¬
streik die Aufmerksamkeit gelenkt worden ist, haben sich seitdem
nicht wesentlich verändert. Es lohnt sich daher wohl, ihre Ur¬
sachen zu untersuchen und die zu ihrer Besserung gemachten Vor^
schlüge zu prüfen.

Wenn eine Arbeit besonders schlecht bezahlt wird, so liegt die Frage nahe,
warum sie denn von denen, die sie verrichten, übernommen wird. Forschen
wir nach, so wird sich wohl meistens ergeben, daß es der starke Andrang zu
dieser Arbeit ist, der den Lohn so herabdrückt. Und da liegt dann wieder
der Schluß nahe, daß diese Arbeit doch vor andern Arbeiten gewisse Vorzüge
haben muß, um deretwillen sie aufgesucht wird. Dann aber ist der geringe
Ertrag dieser Arbeit nicht ein unabwendbares Unglück, sondern die materielle
Schädigung wird freiwillig übernommen wegen der sonstigen Vorzüge der Arbeit.
Es ist merkwürdig, daß in einem Falle, wie bei dem Schneiderstreik, solche
Erwägungen gar uicht oder nur sehr nebenbei geltend gemacht worden sind.
Wer den Grundsatz aufstellt, daß allen Menschen das gleiche Los bereitet werden
sollte, daß das Arbeitenmüssen an und für sich schon ein Verstoß gegen die
Gerechtigkeit sei und der menschlichen Bestimmung widerstreite, hat sich freilich
mit solchen Fragen nicht zu beschäftigen; er zeige dann aber auch, wie feine
Forderungen zu verwirklichen sind. Halten wir uns dagegen an die That¬
sache, daß für die große Mehrzahl der Menschen die Arbeit die Bedingung
der Existenz ist, und daß diese Bedingung meistens nicht als eine Annehm¬
lichkeit empfunden wird, so ist auch nicht darum herumzukommen, daß das
größere oder geringere Maß der Unannehmlichkeit einen Unterschied der Lohn¬
höhe bewirkt. Wer die lästigere Arbeit übernimmt, dem gebührt dafür ein
höherer Lohn, als ihn der erhält, der sich die angenehmere Arbeit aussucht. Der
Versuch, einen Normallohn herzustellen, was freilich auch aus andern Gründen
unmöglich ist, müßte doch schon daran scheitern, daß sich bei gleicher Bezahlung
aller Arbeit sich zu wenige finden würden, die geneigt wären, die schwerere
und unangenehmere Arbeit zu übernehmen.

Entspricht es denn in Wahrheit der Gerechtigkeit, wenn man den, der


Grenzboten II 1396 Sg


Die Pflicht zur Arbeit
Th. Brix von

le Arbeitsverhältnisse, auf die durch den großen Berliner Schneider¬
streik die Aufmerksamkeit gelenkt worden ist, haben sich seitdem
nicht wesentlich verändert. Es lohnt sich daher wohl, ihre Ur¬
sachen zu untersuchen und die zu ihrer Besserung gemachten Vor^
schlüge zu prüfen.

Wenn eine Arbeit besonders schlecht bezahlt wird, so liegt die Frage nahe,
warum sie denn von denen, die sie verrichten, übernommen wird. Forschen
wir nach, so wird sich wohl meistens ergeben, daß es der starke Andrang zu
dieser Arbeit ist, der den Lohn so herabdrückt. Und da liegt dann wieder
der Schluß nahe, daß diese Arbeit doch vor andern Arbeiten gewisse Vorzüge
haben muß, um deretwillen sie aufgesucht wird. Dann aber ist der geringe
Ertrag dieser Arbeit nicht ein unabwendbares Unglück, sondern die materielle
Schädigung wird freiwillig übernommen wegen der sonstigen Vorzüge der Arbeit.
Es ist merkwürdig, daß in einem Falle, wie bei dem Schneiderstreik, solche
Erwägungen gar uicht oder nur sehr nebenbei geltend gemacht worden sind.
Wer den Grundsatz aufstellt, daß allen Menschen das gleiche Los bereitet werden
sollte, daß das Arbeitenmüssen an und für sich schon ein Verstoß gegen die
Gerechtigkeit sei und der menschlichen Bestimmung widerstreite, hat sich freilich
mit solchen Fragen nicht zu beschäftigen; er zeige dann aber auch, wie feine
Forderungen zu verwirklichen sind. Halten wir uns dagegen an die That¬
sache, daß für die große Mehrzahl der Menschen die Arbeit die Bedingung
der Existenz ist, und daß diese Bedingung meistens nicht als eine Annehm¬
lichkeit empfunden wird, so ist auch nicht darum herumzukommen, daß das
größere oder geringere Maß der Unannehmlichkeit einen Unterschied der Lohn¬
höhe bewirkt. Wer die lästigere Arbeit übernimmt, dem gebührt dafür ein
höherer Lohn, als ihn der erhält, der sich die angenehmere Arbeit aussucht. Der
Versuch, einen Normallohn herzustellen, was freilich auch aus andern Gründen
unmöglich ist, müßte doch schon daran scheitern, daß sich bei gleicher Bezahlung
aller Arbeit sich zu wenige finden würden, die geneigt wären, die schwerere
und unangenehmere Arbeit zu übernehmen.

Entspricht es denn in Wahrheit der Gerechtigkeit, wenn man den, der


Grenzboten II 1396 Sg
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[0449] [Abbildung] Die Pflicht zur Arbeit Th. Brix von le Arbeitsverhältnisse, auf die durch den großen Berliner Schneider¬ streik die Aufmerksamkeit gelenkt worden ist, haben sich seitdem nicht wesentlich verändert. Es lohnt sich daher wohl, ihre Ur¬ sachen zu untersuchen und die zu ihrer Besserung gemachten Vor^ schlüge zu prüfen. Wenn eine Arbeit besonders schlecht bezahlt wird, so liegt die Frage nahe, warum sie denn von denen, die sie verrichten, übernommen wird. Forschen wir nach, so wird sich wohl meistens ergeben, daß es der starke Andrang zu dieser Arbeit ist, der den Lohn so herabdrückt. Und da liegt dann wieder der Schluß nahe, daß diese Arbeit doch vor andern Arbeiten gewisse Vorzüge haben muß, um deretwillen sie aufgesucht wird. Dann aber ist der geringe Ertrag dieser Arbeit nicht ein unabwendbares Unglück, sondern die materielle Schädigung wird freiwillig übernommen wegen der sonstigen Vorzüge der Arbeit. Es ist merkwürdig, daß in einem Falle, wie bei dem Schneiderstreik, solche Erwägungen gar uicht oder nur sehr nebenbei geltend gemacht worden sind. Wer den Grundsatz aufstellt, daß allen Menschen das gleiche Los bereitet werden sollte, daß das Arbeitenmüssen an und für sich schon ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit sei und der menschlichen Bestimmung widerstreite, hat sich freilich mit solchen Fragen nicht zu beschäftigen; er zeige dann aber auch, wie feine Forderungen zu verwirklichen sind. Halten wir uns dagegen an die That¬ sache, daß für die große Mehrzahl der Menschen die Arbeit die Bedingung der Existenz ist, und daß diese Bedingung meistens nicht als eine Annehm¬ lichkeit empfunden wird, so ist auch nicht darum herumzukommen, daß das größere oder geringere Maß der Unannehmlichkeit einen Unterschied der Lohn¬ höhe bewirkt. Wer die lästigere Arbeit übernimmt, dem gebührt dafür ein höherer Lohn, als ihn der erhält, der sich die angenehmere Arbeit aussucht. Der Versuch, einen Normallohn herzustellen, was freilich auch aus andern Gründen unmöglich ist, müßte doch schon daran scheitern, daß sich bei gleicher Bezahlung aller Arbeit sich zu wenige finden würden, die geneigt wären, die schwerere und unangenehmere Arbeit zu übernehmen. Entspricht es denn in Wahrheit der Gerechtigkeit, wenn man den, der Grenzboten II 1396 Sg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/449>, abgerufen am 27.04.2024.