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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

Mit einem solchen Vorgehen könnte die Frage einer Abänderung des Freizügig¬
keitsgesetzes mit einem Schlage aufgerollt werden.

Die Agrarier, die selbst mit der größten Rücksichtslosigkeit gegen den Arbeiter¬
stand verfahren, die allen Scharfsinn aufwenden, um Mittel zur Verteuerung der
unentbehrlichsten Nahrungsmittel zu ersinnen, die auch am liebsten die ganze In¬
dustrie vernichten und damit Tausenden vou Meuschen die Arbeitsgelegenheit ent¬
ziehen möchten, werfen sich als Anwälte des Arbeiterstandes auf. Ihnen winkt die
verlockende Aussicht, reichliche und -- billige Arbeitskräfte zu erhalten. Anstatt
die Pflicht der Fürsorge sür den Arbeiter, die sie dem städtischen Arbeitgeber so
beredt ans Herz zu legen wissen, auch sür den Großgrundbesitz anzuerkennen,
wollen sie die unbefriedigende Lage eines Teils der großstädtischen Arbeiterschaft
dazu benutzen, dem Arbeiter Rückkehr aufs Land oder Verbleiben auf dem Lande
zu predigen, wollen ihn durch gesetzlichen Zwang womöglich in den Verhältnissen
festhalten, denen er entflieht. Das ist das Wohlwollen, das von dieser Seite dem
Arbeiterstande zu teil wird, und bei dem Einfluß der Agrarier auf die Gesetz¬
gebung ist wohl zu erwägen, ob man nicht durch eiuen Eutrüstuugssturm ihre Ge¬
schäfte besorgt.


Aus dem Königreich Tiete.

In der vorigen Nummer ist der Aufsatz
der "Nation" über den Fall Jastrow und das Tielesche Bergregal erwähnt worden.
Der Reichsanzeiger hat sich vierzehn Tage Zeit genommen und dann eine Be¬
richtigung gebracht, die sich aber nur auf einen einzigen Punkt bezieht und keine
Berichtigung ist. Wie darin mitgeteilt wird, steht dem Regalherrn laut Vertrag
mit der Negierung zwar das Recht der Ernennung und Besoldung der Bergpolizei¬
beamten seines Bezirks zu, die Aufsicht über die Amtsführung dieser Beamten
aber führt das königliche Oberbergamt in Breslau, Die Zeitungen heben ganz
richtig hervor, daß es einem Beamten nicht ganz leicht fallen kann, die Interessen
der Arbeiter dem Herrn gegenüber zu vertreten, der ihn anstellt und besoldet.




Litteratur
Die babylonische Gefangenschaft der protestantischen Kirche in Deutschland.
Von Eduard Schall. Leipzig, Reinhold Werther

Der Verfasser dieser mannhaften Streitschrift, der bekannte Pastor in Bahr¬
dorf, geht von Luthers berühmter Schrift "Von der babylonischen Gefangenschaft
der Kirche" aus und legt dar, daß die Kirche nach Luther, ohne Luthers Schuld,
aus dem Regen in die Traufe, ans der babylonischen Gefangenschaft in die ägyp¬
tische Finsternis geraten sei, indem sie es gar nicht zu bemerken scheine, daß sie
mehr und mehr zu einer bloßen Staatsanstalt herabsinke. Zum Beweis dafür, in
welchem Grade das der Fall sei, zergliedert er den Erlaß des Oberkirchenrath gegen
die sozialen Pastoren. Einen solchen auf Stelzen gestellten bureaukratisch-oratorischen
Kunstbau mit einem einzigen kräftigen Mnndhcmch umzublasen ist ja nicht schwer.
Aber es geschieht meistens nicht, weil in unsrer höflichen Zeit Erlasse hoher Be-


Litteratur

Mit einem solchen Vorgehen könnte die Frage einer Abänderung des Freizügig¬
keitsgesetzes mit einem Schlage aufgerollt werden.

Die Agrarier, die selbst mit der größten Rücksichtslosigkeit gegen den Arbeiter¬
stand verfahren, die allen Scharfsinn aufwenden, um Mittel zur Verteuerung der
unentbehrlichsten Nahrungsmittel zu ersinnen, die auch am liebsten die ganze In¬
dustrie vernichten und damit Tausenden vou Meuschen die Arbeitsgelegenheit ent¬
ziehen möchten, werfen sich als Anwälte des Arbeiterstandes auf. Ihnen winkt die
verlockende Aussicht, reichliche und — billige Arbeitskräfte zu erhalten. Anstatt
die Pflicht der Fürsorge sür den Arbeiter, die sie dem städtischen Arbeitgeber so
beredt ans Herz zu legen wissen, auch sür den Großgrundbesitz anzuerkennen,
wollen sie die unbefriedigende Lage eines Teils der großstädtischen Arbeiterschaft
dazu benutzen, dem Arbeiter Rückkehr aufs Land oder Verbleiben auf dem Lande
zu predigen, wollen ihn durch gesetzlichen Zwang womöglich in den Verhältnissen
festhalten, denen er entflieht. Das ist das Wohlwollen, das von dieser Seite dem
Arbeiterstande zu teil wird, und bei dem Einfluß der Agrarier auf die Gesetz¬
gebung ist wohl zu erwägen, ob man nicht durch eiuen Eutrüstuugssturm ihre Ge¬
schäfte besorgt.


Aus dem Königreich Tiete.

In der vorigen Nummer ist der Aufsatz
der „Nation" über den Fall Jastrow und das Tielesche Bergregal erwähnt worden.
Der Reichsanzeiger hat sich vierzehn Tage Zeit genommen und dann eine Be¬
richtigung gebracht, die sich aber nur auf einen einzigen Punkt bezieht und keine
Berichtigung ist. Wie darin mitgeteilt wird, steht dem Regalherrn laut Vertrag
mit der Negierung zwar das Recht der Ernennung und Besoldung der Bergpolizei¬
beamten seines Bezirks zu, die Aufsicht über die Amtsführung dieser Beamten
aber führt das königliche Oberbergamt in Breslau, Die Zeitungen heben ganz
richtig hervor, daß es einem Beamten nicht ganz leicht fallen kann, die Interessen
der Arbeiter dem Herrn gegenüber zu vertreten, der ihn anstellt und besoldet.




Litteratur
Die babylonische Gefangenschaft der protestantischen Kirche in Deutschland.
Von Eduard Schall. Leipzig, Reinhold Werther

Der Verfasser dieser mannhaften Streitschrift, der bekannte Pastor in Bahr¬
dorf, geht von Luthers berühmter Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft
der Kirche" aus und legt dar, daß die Kirche nach Luther, ohne Luthers Schuld,
aus dem Regen in die Traufe, ans der babylonischen Gefangenschaft in die ägyp¬
tische Finsternis geraten sei, indem sie es gar nicht zu bemerken scheine, daß sie
mehr und mehr zu einer bloßen Staatsanstalt herabsinke. Zum Beweis dafür, in
welchem Grade das der Fall sei, zergliedert er den Erlaß des Oberkirchenrath gegen
die sozialen Pastoren. Einen solchen auf Stelzen gestellten bureaukratisch-oratorischen
Kunstbau mit einem einzigen kräftigen Mnndhcmch umzublasen ist ja nicht schwer.
Aber es geschieht meistens nicht, weil in unsrer höflichen Zeit Erlasse hoher Be-


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[0486] Litteratur Mit einem solchen Vorgehen könnte die Frage einer Abänderung des Freizügig¬ keitsgesetzes mit einem Schlage aufgerollt werden. Die Agrarier, die selbst mit der größten Rücksichtslosigkeit gegen den Arbeiter¬ stand verfahren, die allen Scharfsinn aufwenden, um Mittel zur Verteuerung der unentbehrlichsten Nahrungsmittel zu ersinnen, die auch am liebsten die ganze In¬ dustrie vernichten und damit Tausenden vou Meuschen die Arbeitsgelegenheit ent¬ ziehen möchten, werfen sich als Anwälte des Arbeiterstandes auf. Ihnen winkt die verlockende Aussicht, reichliche und — billige Arbeitskräfte zu erhalten. Anstatt die Pflicht der Fürsorge sür den Arbeiter, die sie dem städtischen Arbeitgeber so beredt ans Herz zu legen wissen, auch sür den Großgrundbesitz anzuerkennen, wollen sie die unbefriedigende Lage eines Teils der großstädtischen Arbeiterschaft dazu benutzen, dem Arbeiter Rückkehr aufs Land oder Verbleiben auf dem Lande zu predigen, wollen ihn durch gesetzlichen Zwang womöglich in den Verhältnissen festhalten, denen er entflieht. Das ist das Wohlwollen, das von dieser Seite dem Arbeiterstande zu teil wird, und bei dem Einfluß der Agrarier auf die Gesetz¬ gebung ist wohl zu erwägen, ob man nicht durch eiuen Eutrüstuugssturm ihre Ge¬ schäfte besorgt. Aus dem Königreich Tiete. In der vorigen Nummer ist der Aufsatz der „Nation" über den Fall Jastrow und das Tielesche Bergregal erwähnt worden. Der Reichsanzeiger hat sich vierzehn Tage Zeit genommen und dann eine Be¬ richtigung gebracht, die sich aber nur auf einen einzigen Punkt bezieht und keine Berichtigung ist. Wie darin mitgeteilt wird, steht dem Regalherrn laut Vertrag mit der Negierung zwar das Recht der Ernennung und Besoldung der Bergpolizei¬ beamten seines Bezirks zu, die Aufsicht über die Amtsführung dieser Beamten aber führt das königliche Oberbergamt in Breslau, Die Zeitungen heben ganz richtig hervor, daß es einem Beamten nicht ganz leicht fallen kann, die Interessen der Arbeiter dem Herrn gegenüber zu vertreten, der ihn anstellt und besoldet. Litteratur Die babylonische Gefangenschaft der protestantischen Kirche in Deutschland. Von Eduard Schall. Leipzig, Reinhold Werther Der Verfasser dieser mannhaften Streitschrift, der bekannte Pastor in Bahr¬ dorf, geht von Luthers berühmter Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" aus und legt dar, daß die Kirche nach Luther, ohne Luthers Schuld, aus dem Regen in die Traufe, ans der babylonischen Gefangenschaft in die ägyp¬ tische Finsternis geraten sei, indem sie es gar nicht zu bemerken scheine, daß sie mehr und mehr zu einer bloßen Staatsanstalt herabsinke. Zum Beweis dafür, in welchem Grade das der Fall sei, zergliedert er den Erlaß des Oberkirchenrath gegen die sozialen Pastoren. Einen solchen auf Stelzen gestellten bureaukratisch-oratorischen Kunstbau mit einem einzigen kräftigen Mnndhcmch umzublasen ist ja nicht schwer. Aber es geschieht meistens nicht, weil in unsrer höflichen Zeit Erlasse hoher Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/486>, abgerufen am 28.04.2024.