Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line Lhcircikternovelle

In der Richtung dieser Anschauung liegt das, was wir mit einem kurzen
Ausdrucke die Kontinuität unsrer höhern Bildung nennen können. Diese
Bildung selbst ist wieder durch gewisse äußere Verhältnisse bedingt, und dazu
gehört nach unsrer Auffassung auch der jetzt so viel berufne "Besitz," wenn
man seine Bedeutung nicht über Gebühr steigert. Wer mit einem so begründeten
Erbteil seiner Vorfahren in das geistige Leben seiner Zeit eintreten und ein¬
greifen kann, der hat es natürlich leichter, als wer von unten her in jene
Kontinuität gewissermaßen einbricht. Um gleichen Erfolg zu haben, müßte
des Emporstrebenden geistige Kraft bedeutender sein oder sein Glück größer.
Weil uns nun das als eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit vor¬
kommt, so schreiben wir, wie es scheint, zunächst jedem Emporsteigenden leicht
ein Talent zu, das er in Wirklichkeit gar nicht hat. Und weil dann für ihn
das Mißlingen unausbleiblich ist, so machen wir zweitens meist die traurige
Wahrnehmung, daß ein zu schnelles Emporsteigen die erste Generation ihres
Fortschritts nicht froh werden läßt. Wohl ihr, wenn das Glück der folgenden
sie für die eigne Enttäuschung entschädigen kann!




Gine Lharakternovelle

or kurzem war in einem Blatte zu lesen, der oder der deutsche
Schriftsteller -- der Name ist mir eben entfallen -- habe in
den letzten zehn Jahren das und jenes geschrieben, er gelte
neuerdings für den ersten Vertreter der -- italienischen Charakter¬
novelle. Er stehe in dieser Beziehung sogar noch über Paul Hesse.
Einen Augenblick rieb ich mir die Stirn: Hast du denn die letzten zehn Jahre
geschlafen? Italienische Charakternovelle, was mag denn das sein? Ich
konnte mich wohl aus meiner frühern Kenntnis erinnern, daß kräftige Zeiten
oder einzelne kräftige Menschen ein fremdes nationales Kostüm benutzt Hütten
als Maske für Spott oder Kurzweil, auch im Ernst zum Gewände für eigne,
tiefe Gedanken, aber das war doch alte, verjährte Litteraturkenntnis: Gil Blas,'
Montesquieu, Lord Byron oder so etwas. Aber jetzt, seit zehn Jahren,
italienische Charakternovelle? "Nun ja, warum lesen sich denn nicht," pflegte
mein alter Freund S. mir bei solchen Anlässen zu sagen. Und wenn ich mirs
dann gekauft oder sonstwie verschafft und es schließlich auch gelesen hatte und
dann bei nächster Gelegenheit ihm anvertraute, daß ich doch eigentlich nicht


Line Lhcircikternovelle

In der Richtung dieser Anschauung liegt das, was wir mit einem kurzen
Ausdrucke die Kontinuität unsrer höhern Bildung nennen können. Diese
Bildung selbst ist wieder durch gewisse äußere Verhältnisse bedingt, und dazu
gehört nach unsrer Auffassung auch der jetzt so viel berufne „Besitz," wenn
man seine Bedeutung nicht über Gebühr steigert. Wer mit einem so begründeten
Erbteil seiner Vorfahren in das geistige Leben seiner Zeit eintreten und ein¬
greifen kann, der hat es natürlich leichter, als wer von unten her in jene
Kontinuität gewissermaßen einbricht. Um gleichen Erfolg zu haben, müßte
des Emporstrebenden geistige Kraft bedeutender sein oder sein Glück größer.
Weil uns nun das als eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit vor¬
kommt, so schreiben wir, wie es scheint, zunächst jedem Emporsteigenden leicht
ein Talent zu, das er in Wirklichkeit gar nicht hat. Und weil dann für ihn
das Mißlingen unausbleiblich ist, so machen wir zweitens meist die traurige
Wahrnehmung, daß ein zu schnelles Emporsteigen die erste Generation ihres
Fortschritts nicht froh werden läßt. Wohl ihr, wenn das Glück der folgenden
sie für die eigne Enttäuschung entschädigen kann!




Gine Lharakternovelle

or kurzem war in einem Blatte zu lesen, der oder der deutsche
Schriftsteller — der Name ist mir eben entfallen — habe in
den letzten zehn Jahren das und jenes geschrieben, er gelte
neuerdings für den ersten Vertreter der — italienischen Charakter¬
novelle. Er stehe in dieser Beziehung sogar noch über Paul Hesse.
Einen Augenblick rieb ich mir die Stirn: Hast du denn die letzten zehn Jahre
geschlafen? Italienische Charakternovelle, was mag denn das sein? Ich
konnte mich wohl aus meiner frühern Kenntnis erinnern, daß kräftige Zeiten
oder einzelne kräftige Menschen ein fremdes nationales Kostüm benutzt Hütten
als Maske für Spott oder Kurzweil, auch im Ernst zum Gewände für eigne,
tiefe Gedanken, aber das war doch alte, verjährte Litteraturkenntnis: Gil Blas,'
Montesquieu, Lord Byron oder so etwas. Aber jetzt, seit zehn Jahren,
italienische Charakternovelle? „Nun ja, warum lesen sich denn nicht," pflegte
mein alter Freund S. mir bei solchen Anlässen zu sagen. Und wenn ich mirs
dann gekauft oder sonstwie verschafft und es schließlich auch gelesen hatte und
dann bei nächster Gelegenheit ihm anvertraute, daß ich doch eigentlich nicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0519" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222823"/>
          <fw type="header" place="top"> Line Lhcircikternovelle</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1486"> In der Richtung dieser Anschauung liegt das, was wir mit einem kurzen<lb/>
Ausdrucke die Kontinuität unsrer höhern Bildung nennen können. Diese<lb/>
Bildung selbst ist wieder durch gewisse äußere Verhältnisse bedingt, und dazu<lb/>
gehört nach unsrer Auffassung auch der jetzt so viel berufne &#x201E;Besitz," wenn<lb/>
man seine Bedeutung nicht über Gebühr steigert. Wer mit einem so begründeten<lb/>
Erbteil seiner Vorfahren in das geistige Leben seiner Zeit eintreten und ein¬<lb/>
greifen kann, der hat es natürlich leichter, als wer von unten her in jene<lb/>
Kontinuität gewissermaßen einbricht. Um gleichen Erfolg zu haben, müßte<lb/>
des Emporstrebenden geistige Kraft bedeutender sein oder sein Glück größer.<lb/>
Weil uns nun das als eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit vor¬<lb/>
kommt, so schreiben wir, wie es scheint, zunächst jedem Emporsteigenden leicht<lb/>
ein Talent zu, das er in Wirklichkeit gar nicht hat. Und weil dann für ihn<lb/>
das Mißlingen unausbleiblich ist, so machen wir zweitens meist die traurige<lb/>
Wahrnehmung, daß ein zu schnelles Emporsteigen die erste Generation ihres<lb/>
Fortschritts nicht froh werden läßt. Wohl ihr, wenn das Glück der folgenden<lb/>
sie für die eigne Enttäuschung entschädigen kann!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Gine Lharakternovelle</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1487" next="#ID_1488"> or kurzem war in einem Blatte zu lesen, der oder der deutsche<lb/>
Schriftsteller &#x2014; der Name ist mir eben entfallen &#x2014; habe in<lb/>
den letzten zehn Jahren das und jenes geschrieben, er gelte<lb/>
neuerdings für den ersten Vertreter der &#x2014; italienischen Charakter¬<lb/>
novelle. Er stehe in dieser Beziehung sogar noch über Paul Hesse.<lb/>
Einen Augenblick rieb ich mir die Stirn: Hast du denn die letzten zehn Jahre<lb/>
geschlafen? Italienische Charakternovelle, was mag denn das sein? Ich<lb/>
konnte mich wohl aus meiner frühern Kenntnis erinnern, daß kräftige Zeiten<lb/>
oder einzelne kräftige Menschen ein fremdes nationales Kostüm benutzt Hütten<lb/>
als Maske für Spott oder Kurzweil, auch im Ernst zum Gewände für eigne,<lb/>
tiefe Gedanken, aber das war doch alte, verjährte Litteraturkenntnis: Gil Blas,'<lb/>
Montesquieu, Lord Byron oder so etwas. Aber jetzt, seit zehn Jahren,<lb/>
italienische Charakternovelle? &#x201E;Nun ja, warum lesen sich denn nicht," pflegte<lb/>
mein alter Freund S. mir bei solchen Anlässen zu sagen. Und wenn ich mirs<lb/>
dann gekauft oder sonstwie verschafft und es schließlich auch gelesen hatte und<lb/>
dann bei nächster Gelegenheit ihm anvertraute, daß ich doch eigentlich nicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0519] Line Lhcircikternovelle In der Richtung dieser Anschauung liegt das, was wir mit einem kurzen Ausdrucke die Kontinuität unsrer höhern Bildung nennen können. Diese Bildung selbst ist wieder durch gewisse äußere Verhältnisse bedingt, und dazu gehört nach unsrer Auffassung auch der jetzt so viel berufne „Besitz," wenn man seine Bedeutung nicht über Gebühr steigert. Wer mit einem so begründeten Erbteil seiner Vorfahren in das geistige Leben seiner Zeit eintreten und ein¬ greifen kann, der hat es natürlich leichter, als wer von unten her in jene Kontinuität gewissermaßen einbricht. Um gleichen Erfolg zu haben, müßte des Emporstrebenden geistige Kraft bedeutender sein oder sein Glück größer. Weil uns nun das als eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit vor¬ kommt, so schreiben wir, wie es scheint, zunächst jedem Emporsteigenden leicht ein Talent zu, das er in Wirklichkeit gar nicht hat. Und weil dann für ihn das Mißlingen unausbleiblich ist, so machen wir zweitens meist die traurige Wahrnehmung, daß ein zu schnelles Emporsteigen die erste Generation ihres Fortschritts nicht froh werden läßt. Wohl ihr, wenn das Glück der folgenden sie für die eigne Enttäuschung entschädigen kann! Gine Lharakternovelle or kurzem war in einem Blatte zu lesen, der oder der deutsche Schriftsteller — der Name ist mir eben entfallen — habe in den letzten zehn Jahren das und jenes geschrieben, er gelte neuerdings für den ersten Vertreter der — italienischen Charakter¬ novelle. Er stehe in dieser Beziehung sogar noch über Paul Hesse. Einen Augenblick rieb ich mir die Stirn: Hast du denn die letzten zehn Jahre geschlafen? Italienische Charakternovelle, was mag denn das sein? Ich konnte mich wohl aus meiner frühern Kenntnis erinnern, daß kräftige Zeiten oder einzelne kräftige Menschen ein fremdes nationales Kostüm benutzt Hütten als Maske für Spott oder Kurzweil, auch im Ernst zum Gewände für eigne, tiefe Gedanken, aber das war doch alte, verjährte Litteraturkenntnis: Gil Blas,' Montesquieu, Lord Byron oder so etwas. Aber jetzt, seit zehn Jahren, italienische Charakternovelle? „Nun ja, warum lesen sich denn nicht," pflegte mein alter Freund S. mir bei solchen Anlässen zu sagen. Und wenn ich mirs dann gekauft oder sonstwie verschafft und es schließlich auch gelesen hatte und dann bei nächster Gelegenheit ihm anvertraute, daß ich doch eigentlich nicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/519
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/519>, abgerufen am 27.04.2024.