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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Wenn ich nicht fürchten müßte, wegen Größenwahns dem nächsten Eut-
müudiguugsrichter in die Hände zu fallen, würde ich sagen, daß Johannes Miqnel,
der Vielgeschmähte, die Anregung zu diesem Ukas in meinen beiden kleinen Auf¬
sätzen über das Wohlgeborensein und den Snbmissionsstrich in den Nummern 42
und 48 der Grenzboten von 1395 gefunden hat.

Also bis jetzt sind erst Königlich Preußische Katasterkontrolleure die Glücklichen,
die durch Verfügung eines "an der Spitze" stehenden mit einer erfreulichen Ver¬
einfachung des amtlichen Schreibwerks bedacht sind. Hoffentlich giebt es jetzt überall
ein großes "Reinemachen," das Frühjahr ist ja die beste Zeit dazu.




Litteratur
Völkerkunde von Friedrich Ratel. Zweite, gänzlich neu bearbeitete Auflage. 2 Bände.
Leipzig und Wien,' Bibliographisches Institut, 18!>4. 1895

Ein Werk wie das vorliegende bedarf keiner Empfehlung mehr, sondern nur
einer Anzeige, einer solchen aber schon deshalb, weil es in der That ein völlig
neues Werk geworden ist. Hat sich doch der Verfasser entschlossen, die drei Bände
der ersten Auflage in zwei zusammenzuziehen, und ist doch auch die Illustration zum
großen Teile neu beschafft werden. "Grundzüge der Völkerkunde" leiten das
ganze Werk ein. Sie enthalten die Grundanschauungen Ratzels, von denen aus er
den ganzen wahrhaft ungeheuern Stoff durchdringt nud beurteilt. Die gesamte
Menschheit bildet ihm eine Einheit, denn die Unterschiede der Rassen sind gering¬
fügig, verglichen mit den Unterschieden, die zwischen den Tierarten auch mir der¬
selbe" Gcittuug bestehen, sie sind durch Klima, Boden, Lebensweise und geschicht¬
liche Entwicklung entstanden und scheinen wieder durch Völker-und Rassenmischung zur
Einheit zurückzustreben. Kaum irgend eine Nasse hat sich heute noch rein erhalten, und
so sehr gehen die Merkmale der einzelnen herkömmlicherweise unterschiednem Menschen¬
rassen in einander über, daß Ratzel sie nicht in der alten Weise als Einteilungs¬
grund angenommen hat. Gar nicht in Betracht kommt für ihn bei der Beurteilung
der Abstammung und Nassenzugehörigkeit die Sprache, da der Übergang eines
Volkes zu einer andern Sprache, als der ererbten, hundertfältig nachgewiesen ist
und nicht von der Abstammung, sondern von der geschichtlichen Entwicklung ab¬
hängt, also wohl für diese, aber nicht für jene Beweiskraft hat. Vom Stand¬
punkte der ursprünglichen Einheit des Menschengeschlechts aus erscheint dem Ver¬
fasser jedes Volk als ein Glied der Menschheit der gleichen Beachtung würdig.
Lebhaft wendet er sich gegen den Kulturstolz derer, die auf alle unkultivirten Völker
und also vor allem auf die sogenannten Naturvölker verächtlich Herabseheu. Denn
auch die wichtigsten Grundlagen der Kultur: Sprache, Religion, Staat, Technik usw.
sind allen Völkern der Erde gemeinsam, es giebt keines, das sie nicht in irgend
welcher Form besäße, und die Unterschiede sind nur Unterschiede des Grades.
Allerdings giebt es eine ziemlich genau abzugrenzende "Knlturzoue," deren Volker
von jeher die andern übertroffen haben, aber dieser Vorzug liegt für Ratzel nicht
so sehr in der Begabung der Völker (deren Bedeutung er vielleicht zu gering an-


Litteratur

Wenn ich nicht fürchten müßte, wegen Größenwahns dem nächsten Eut-
müudiguugsrichter in die Hände zu fallen, würde ich sagen, daß Johannes Miqnel,
der Vielgeschmähte, die Anregung zu diesem Ukas in meinen beiden kleinen Auf¬
sätzen über das Wohlgeborensein und den Snbmissionsstrich in den Nummern 42
und 48 der Grenzboten von 1395 gefunden hat.

Also bis jetzt sind erst Königlich Preußische Katasterkontrolleure die Glücklichen,
die durch Verfügung eines „an der Spitze" stehenden mit einer erfreulichen Ver¬
einfachung des amtlichen Schreibwerks bedacht sind. Hoffentlich giebt es jetzt überall
ein großes „Reinemachen," das Frühjahr ist ja die beste Zeit dazu.




Litteratur
Völkerkunde von Friedrich Ratel. Zweite, gänzlich neu bearbeitete Auflage. 2 Bände.
Leipzig und Wien,' Bibliographisches Institut, 18!>4. 1895

Ein Werk wie das vorliegende bedarf keiner Empfehlung mehr, sondern nur
einer Anzeige, einer solchen aber schon deshalb, weil es in der That ein völlig
neues Werk geworden ist. Hat sich doch der Verfasser entschlossen, die drei Bände
der ersten Auflage in zwei zusammenzuziehen, und ist doch auch die Illustration zum
großen Teile neu beschafft werden. „Grundzüge der Völkerkunde" leiten das
ganze Werk ein. Sie enthalten die Grundanschauungen Ratzels, von denen aus er
den ganzen wahrhaft ungeheuern Stoff durchdringt nud beurteilt. Die gesamte
Menschheit bildet ihm eine Einheit, denn die Unterschiede der Rassen sind gering¬
fügig, verglichen mit den Unterschieden, die zwischen den Tierarten auch mir der¬
selbe» Gcittuug bestehen, sie sind durch Klima, Boden, Lebensweise und geschicht¬
liche Entwicklung entstanden und scheinen wieder durch Völker-und Rassenmischung zur
Einheit zurückzustreben. Kaum irgend eine Nasse hat sich heute noch rein erhalten, und
so sehr gehen die Merkmale der einzelnen herkömmlicherweise unterschiednem Menschen¬
rassen in einander über, daß Ratzel sie nicht in der alten Weise als Einteilungs¬
grund angenommen hat. Gar nicht in Betracht kommt für ihn bei der Beurteilung
der Abstammung und Nassenzugehörigkeit die Sprache, da der Übergang eines
Volkes zu einer andern Sprache, als der ererbten, hundertfältig nachgewiesen ist
und nicht von der Abstammung, sondern von der geschichtlichen Entwicklung ab¬
hängt, also wohl für diese, aber nicht für jene Beweiskraft hat. Vom Stand¬
punkte der ursprünglichen Einheit des Menschengeschlechts aus erscheint dem Ver¬
fasser jedes Volk als ein Glied der Menschheit der gleichen Beachtung würdig.
Lebhaft wendet er sich gegen den Kulturstolz derer, die auf alle unkultivirten Völker
und also vor allem auf die sogenannten Naturvölker verächtlich Herabseheu. Denn
auch die wichtigsten Grundlagen der Kultur: Sprache, Religion, Staat, Technik usw.
sind allen Völkern der Erde gemeinsam, es giebt keines, das sie nicht in irgend
welcher Form besäße, und die Unterschiede sind nur Unterschiede des Grades.
Allerdings giebt es eine ziemlich genau abzugrenzende „Knlturzoue," deren Volker
von jeher die andern übertroffen haben, aber dieser Vorzug liegt für Ratzel nicht
so sehr in der Begabung der Völker (deren Bedeutung er vielleicht zu gering an-


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[0099] Litteratur Wenn ich nicht fürchten müßte, wegen Größenwahns dem nächsten Eut- müudiguugsrichter in die Hände zu fallen, würde ich sagen, daß Johannes Miqnel, der Vielgeschmähte, die Anregung zu diesem Ukas in meinen beiden kleinen Auf¬ sätzen über das Wohlgeborensein und den Snbmissionsstrich in den Nummern 42 und 48 der Grenzboten von 1395 gefunden hat. Also bis jetzt sind erst Königlich Preußische Katasterkontrolleure die Glücklichen, die durch Verfügung eines „an der Spitze" stehenden mit einer erfreulichen Ver¬ einfachung des amtlichen Schreibwerks bedacht sind. Hoffentlich giebt es jetzt überall ein großes „Reinemachen," das Frühjahr ist ja die beste Zeit dazu. Litteratur Völkerkunde von Friedrich Ratel. Zweite, gänzlich neu bearbeitete Auflage. 2 Bände. Leipzig und Wien,' Bibliographisches Institut, 18!>4. 1895 Ein Werk wie das vorliegende bedarf keiner Empfehlung mehr, sondern nur einer Anzeige, einer solchen aber schon deshalb, weil es in der That ein völlig neues Werk geworden ist. Hat sich doch der Verfasser entschlossen, die drei Bände der ersten Auflage in zwei zusammenzuziehen, und ist doch auch die Illustration zum großen Teile neu beschafft werden. „Grundzüge der Völkerkunde" leiten das ganze Werk ein. Sie enthalten die Grundanschauungen Ratzels, von denen aus er den ganzen wahrhaft ungeheuern Stoff durchdringt nud beurteilt. Die gesamte Menschheit bildet ihm eine Einheit, denn die Unterschiede der Rassen sind gering¬ fügig, verglichen mit den Unterschieden, die zwischen den Tierarten auch mir der¬ selbe» Gcittuug bestehen, sie sind durch Klima, Boden, Lebensweise und geschicht¬ liche Entwicklung entstanden und scheinen wieder durch Völker-und Rassenmischung zur Einheit zurückzustreben. Kaum irgend eine Nasse hat sich heute noch rein erhalten, und so sehr gehen die Merkmale der einzelnen herkömmlicherweise unterschiednem Menschen¬ rassen in einander über, daß Ratzel sie nicht in der alten Weise als Einteilungs¬ grund angenommen hat. Gar nicht in Betracht kommt für ihn bei der Beurteilung der Abstammung und Nassenzugehörigkeit die Sprache, da der Übergang eines Volkes zu einer andern Sprache, als der ererbten, hundertfältig nachgewiesen ist und nicht von der Abstammung, sondern von der geschichtlichen Entwicklung ab¬ hängt, also wohl für diese, aber nicht für jene Beweiskraft hat. Vom Stand¬ punkte der ursprünglichen Einheit des Menschengeschlechts aus erscheint dem Ver¬ fasser jedes Volk als ein Glied der Menschheit der gleichen Beachtung würdig. Lebhaft wendet er sich gegen den Kulturstolz derer, die auf alle unkultivirten Völker und also vor allem auf die sogenannten Naturvölker verächtlich Herabseheu. Denn auch die wichtigsten Grundlagen der Kultur: Sprache, Religion, Staat, Technik usw. sind allen Völkern der Erde gemeinsam, es giebt keines, das sie nicht in irgend welcher Form besäße, und die Unterschiede sind nur Unterschiede des Grades. Allerdings giebt es eine ziemlich genau abzugrenzende „Knlturzoue," deren Volker von jeher die andern übertroffen haben, aber dieser Vorzug liegt für Ratzel nicht so sehr in der Begabung der Völker (deren Bedeutung er vielleicht zu gering an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/99>, abgerufen am 27.04.2024.