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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

6

Aber die Periode Alexanders III. war verfrüht und wird nicht ohne
schädliche Wirkung bleiben. Das russische Volk wird ganz sicher einmal in
der Lage sein, selbst seine Geschäfte zu besorgen. Das wird aber erst in dem
Augenblick geschehen, wo sich ein fähiger und wohlhabender, vor allem ein
wirklich gebildeter Mittelstand gebildet haben wird. Der Augenblick wird
kommen, davon bin ich überzeugt. Aber er ist noch lange nicht da. Es kann
noch ein halbes, vielleicht, wenn die Entwicklung durch irgend eine ungeschickte
Maßregel der Negierung gehemmt wird, ein ganzes Jahrhundert dauern.
Augenblicklich hat Rußland noch die Aufhebung der Leibeigenschaft zu ver¬
dauen. Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft waren die Stände streng ge¬
schieden. Nur dem Adel, dem hohen und dem niedern, stand das Heer und
die Beamtenlaufbahn offen; der Stand der Kaufleute war fest organisirt, in
seinen höhern Kreisen bestand er nur aus Ausländern, während der handelnde
Russe Krümer war und blieb. Der Rest war Mushik, Bauer, ohne Bildung,
ohne den Sinn und Willen, mehr zu sein als eine "Seele," der Sklave, das
Eigentum, die Ware in der Hand des Edelmanns.

Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft, und seit der Grundsatz aus¬
gesprochen wurde, "die Stände zu verschmelzen," ist in das Beamtentum, in
die gelehrten Berufe und nicht minder in den "Stand" der Kaufleute und
Fabrikanten ein frisches, kräftiges und auch fleißiges Element gekommen, das
"intelligente Russentum" aus dem bis dahin völlig mißachteten niedern Volke.
Aber mit einemmale, gewissermaßen auf Kommando, kann sich auch in einem
despotischen Staate kein neuer Stand bilden. Ein uationalrussischer Mittel¬
stand ist bei der "Verschmelzung der Stunde" nicht herausgekommen, und aus
mancherlei Gründen ist der Prozeß, durch den das nationale Russentum der
untern Schichten einem Fortschritt zugeführt werden sollte, bedenklich langsam
gewesen. Die alten Schranken waren gefallen, aber es fehlte ein einigendes
Band für das gesamte Volk. Es fehlte eine auf nationaler Grundlage beruhende
Bildung, und es fehlte eine Geschichte, an der sich alle Stände gemeinsam
hätten erfreuen, auf die sie hätten stolz sein können. Die frischen jungen
Kräfte, die in die höhern Schichten der Gesellschaft vordrangen, fanden dort
eine Verderbtheit und Schamlosigkeit, die sie entweder, wenn sie klug waren,
zynisch mitmachten, oder durch die sie dem Pessimismus und dem Nihilismus
in die Arme getrieben wurden. Bis dahin hatten sie vor einem Vorhang ge¬
standen, hinter dem sie heilige Schätze glaubten; der Vorhang zerriß, und was
ihnen entgegenkam, war Moderduft. Sie waren in Dummheit erhalten worden,
nun hatten sie Anteil an der herrlichen, freien Bildung; aber das Licht war
zu stark für das an Nacht gewöhnte Auge. Es wurde ihnen die Naivität
geraubt, sie sahen zu viel auf einmal, sie zogen die letzten Folgerungen all
der neuen Weisheit, und -- sie standen vor dem Nichts. Was ihnen früher


Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

6

Aber die Periode Alexanders III. war verfrüht und wird nicht ohne
schädliche Wirkung bleiben. Das russische Volk wird ganz sicher einmal in
der Lage sein, selbst seine Geschäfte zu besorgen. Das wird aber erst in dem
Augenblick geschehen, wo sich ein fähiger und wohlhabender, vor allem ein
wirklich gebildeter Mittelstand gebildet haben wird. Der Augenblick wird
kommen, davon bin ich überzeugt. Aber er ist noch lange nicht da. Es kann
noch ein halbes, vielleicht, wenn die Entwicklung durch irgend eine ungeschickte
Maßregel der Negierung gehemmt wird, ein ganzes Jahrhundert dauern.
Augenblicklich hat Rußland noch die Aufhebung der Leibeigenschaft zu ver¬
dauen. Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft waren die Stände streng ge¬
schieden. Nur dem Adel, dem hohen und dem niedern, stand das Heer und
die Beamtenlaufbahn offen; der Stand der Kaufleute war fest organisirt, in
seinen höhern Kreisen bestand er nur aus Ausländern, während der handelnde
Russe Krümer war und blieb. Der Rest war Mushik, Bauer, ohne Bildung,
ohne den Sinn und Willen, mehr zu sein als eine „Seele," der Sklave, das
Eigentum, die Ware in der Hand des Edelmanns.

Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft, und seit der Grundsatz aus¬
gesprochen wurde, „die Stände zu verschmelzen," ist in das Beamtentum, in
die gelehrten Berufe und nicht minder in den „Stand" der Kaufleute und
Fabrikanten ein frisches, kräftiges und auch fleißiges Element gekommen, das
„intelligente Russentum" aus dem bis dahin völlig mißachteten niedern Volke.
Aber mit einemmale, gewissermaßen auf Kommando, kann sich auch in einem
despotischen Staate kein neuer Stand bilden. Ein uationalrussischer Mittel¬
stand ist bei der „Verschmelzung der Stunde" nicht herausgekommen, und aus
mancherlei Gründen ist der Prozeß, durch den das nationale Russentum der
untern Schichten einem Fortschritt zugeführt werden sollte, bedenklich langsam
gewesen. Die alten Schranken waren gefallen, aber es fehlte ein einigendes
Band für das gesamte Volk. Es fehlte eine auf nationaler Grundlage beruhende
Bildung, und es fehlte eine Geschichte, an der sich alle Stände gemeinsam
hätten erfreuen, auf die sie hätten stolz sein können. Die frischen jungen
Kräfte, die in die höhern Schichten der Gesellschaft vordrangen, fanden dort
eine Verderbtheit und Schamlosigkeit, die sie entweder, wenn sie klug waren,
zynisch mitmachten, oder durch die sie dem Pessimismus und dem Nihilismus
in die Arme getrieben wurden. Bis dahin hatten sie vor einem Vorhang ge¬
standen, hinter dem sie heilige Schätze glaubten; der Vorhang zerriß, und was
ihnen entgegenkam, war Moderduft. Sie waren in Dummheit erhalten worden,
nun hatten sie Anteil an der herrlichen, freien Bildung; aber das Licht war
zu stark für das an Nacht gewöhnte Auge. Es wurde ihnen die Naivität
geraubt, sie sahen zu viel auf einmal, sie zogen die letzten Folgerungen all
der neuen Weisheit, und — sie standen vor dem Nichts. Was ihnen früher


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[0140] Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland 6 Aber die Periode Alexanders III. war verfrüht und wird nicht ohne schädliche Wirkung bleiben. Das russische Volk wird ganz sicher einmal in der Lage sein, selbst seine Geschäfte zu besorgen. Das wird aber erst in dem Augenblick geschehen, wo sich ein fähiger und wohlhabender, vor allem ein wirklich gebildeter Mittelstand gebildet haben wird. Der Augenblick wird kommen, davon bin ich überzeugt. Aber er ist noch lange nicht da. Es kann noch ein halbes, vielleicht, wenn die Entwicklung durch irgend eine ungeschickte Maßregel der Negierung gehemmt wird, ein ganzes Jahrhundert dauern. Augenblicklich hat Rußland noch die Aufhebung der Leibeigenschaft zu ver¬ dauen. Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft waren die Stände streng ge¬ schieden. Nur dem Adel, dem hohen und dem niedern, stand das Heer und die Beamtenlaufbahn offen; der Stand der Kaufleute war fest organisirt, in seinen höhern Kreisen bestand er nur aus Ausländern, während der handelnde Russe Krümer war und blieb. Der Rest war Mushik, Bauer, ohne Bildung, ohne den Sinn und Willen, mehr zu sein als eine „Seele," der Sklave, das Eigentum, die Ware in der Hand des Edelmanns. Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft, und seit der Grundsatz aus¬ gesprochen wurde, „die Stände zu verschmelzen," ist in das Beamtentum, in die gelehrten Berufe und nicht minder in den „Stand" der Kaufleute und Fabrikanten ein frisches, kräftiges und auch fleißiges Element gekommen, das „intelligente Russentum" aus dem bis dahin völlig mißachteten niedern Volke. Aber mit einemmale, gewissermaßen auf Kommando, kann sich auch in einem despotischen Staate kein neuer Stand bilden. Ein uationalrussischer Mittel¬ stand ist bei der „Verschmelzung der Stunde" nicht herausgekommen, und aus mancherlei Gründen ist der Prozeß, durch den das nationale Russentum der untern Schichten einem Fortschritt zugeführt werden sollte, bedenklich langsam gewesen. Die alten Schranken waren gefallen, aber es fehlte ein einigendes Band für das gesamte Volk. Es fehlte eine auf nationaler Grundlage beruhende Bildung, und es fehlte eine Geschichte, an der sich alle Stände gemeinsam hätten erfreuen, auf die sie hätten stolz sein können. Die frischen jungen Kräfte, die in die höhern Schichten der Gesellschaft vordrangen, fanden dort eine Verderbtheit und Schamlosigkeit, die sie entweder, wenn sie klug waren, zynisch mitmachten, oder durch die sie dem Pessimismus und dem Nihilismus in die Arme getrieben wurden. Bis dahin hatten sie vor einem Vorhang ge¬ standen, hinter dem sie heilige Schätze glaubten; der Vorhang zerriß, und was ihnen entgegenkam, war Moderduft. Sie waren in Dummheit erhalten worden, nun hatten sie Anteil an der herrlichen, freien Bildung; aber das Licht war zu stark für das an Nacht gewöhnte Auge. Es wurde ihnen die Naivität geraubt, sie sahen zu viel auf einmal, sie zogen die letzten Folgerungen all der neuen Weisheit, und — sie standen vor dem Nichts. Was ihnen früher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/140>, abgerufen am 30.05.2024.