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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

rasend schnell; freilich haben sie ihre flinken, kleinen Gäule ganz anders in der
Gewalt als ein Berliner Droschkenkutscher, und ihr Wagen ist klein und leicht.

Das Charakteristische des Petersburger und Moskaner Straßenbildes ist,
daß weit mehr gefahren wird als in andern Städten Europas. Das erklärt
sich erstens aus der weiten Anlage der Städte und ihren großen Entfernungen,
dann aus der Übeln Beschaffenheit des Pflasters, das ein längeres Gehen fast
unmöglich macht. Moskau hatte bis vor einiger Zeit nicht einmal gangbares
Trottoir, und zum Spazierengehen ladet auch das heutige noch nicht ein;
ferner ist die Billigkeit der Pferde in Betracht zu ziehen. Fast jeder wohl¬
habende Mann hat eigne Wagen und Pferde. In Petersburg sieht man sehr
viel "englisch" angeschirrte Equipagen; in Moskau überwiegt die "russische"
Art. Das einspännige Pferd geht in der Gabel, zweispännig fahren nur
"Karreten" (Landauer), die man selten sieht, für Fahrten über Land ist die
"Troika" beliebt, drei Pferde nebeneinander, das Mittelpferd in der Gabel.
Während der Krönungszeit sah man äußerst elegante Trollen mit prachtvollen
Pferden, so die des Warschauer Geueralgouverneurs Schuwalow. Überhaupt
sieht man kaum anderswo so viele schone Pferde; für vornehme Gespanne
wählt man mit Vorliebe Hengste. In den Straßen mit großen Verkehr, auf
dem Newskijprospekt in Petersburg, auf der Schmiedebrücke in Moskau sieht
man wohl ebensoviel Wagen wie Fußgänger.

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Parteitage.

Wenn eine Partei ihren jährlichen "Tag" hinter verschlossenen
Thüren abhält und die Teilnehmer zum Stillschweigen über gewisse Dinge ver¬
pflichtet, so begründet sie damit den Verdacht, daß sie ihre Schwäche oder ihre
Uneinigkeit oder ihre Ratlosigkeit oder noch schlimmeres verbergen wolle. Gleich
den Nntionalliberalen haben auch die Vertreter der deutsch-sozialen Reformpartei
im Dunkeln getagt, und die dürften allerdings noch mehr zu verbergen haben als
jene. Von beiden hat die "Zeit," das neue Organ der Nationalsozialen, recht
gute Charakteristiken gebracht. Wenn, wie aus dem Bericht der Zeit hervorzu¬
gehen scheint, die durch ihren Kampf gegen die Konsumvereine berühmten Sachsen
in der Partei den Ton angeben, wenn auf diesem Parteitage jeder arbeiterfreund¬
liche Vorschlag zurückgewiesen und u. a. die Bäckereiverordnung des Bundesrath
gemißbilligt worden ist, wenn also die Partei das engherzigste Kleinbürgertum und
sonst weiter nichts vertritt, dann wird sie schwerlich das deutsche Reich reformiren
und ihren Namen wohl mit Unrecht tragen.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

rasend schnell; freilich haben sie ihre flinken, kleinen Gäule ganz anders in der
Gewalt als ein Berliner Droschkenkutscher, und ihr Wagen ist klein und leicht.

Das Charakteristische des Petersburger und Moskaner Straßenbildes ist,
daß weit mehr gefahren wird als in andern Städten Europas. Das erklärt
sich erstens aus der weiten Anlage der Städte und ihren großen Entfernungen,
dann aus der Übeln Beschaffenheit des Pflasters, das ein längeres Gehen fast
unmöglich macht. Moskau hatte bis vor einiger Zeit nicht einmal gangbares
Trottoir, und zum Spazierengehen ladet auch das heutige noch nicht ein;
ferner ist die Billigkeit der Pferde in Betracht zu ziehen. Fast jeder wohl¬
habende Mann hat eigne Wagen und Pferde. In Petersburg sieht man sehr
viel „englisch" angeschirrte Equipagen; in Moskau überwiegt die „russische"
Art. Das einspännige Pferd geht in der Gabel, zweispännig fahren nur
„Karreten" (Landauer), die man selten sieht, für Fahrten über Land ist die
„Troika" beliebt, drei Pferde nebeneinander, das Mittelpferd in der Gabel.
Während der Krönungszeit sah man äußerst elegante Trollen mit prachtvollen
Pferden, so die des Warschauer Geueralgouverneurs Schuwalow. Überhaupt
sieht man kaum anderswo so viele schone Pferde; für vornehme Gespanne
wählt man mit Vorliebe Hengste. In den Straßen mit großen Verkehr, auf
dem Newskijprospekt in Petersburg, auf der Schmiedebrücke in Moskau sieht
man wohl ebensoviel Wagen wie Fußgänger.

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Parteitage.

Wenn eine Partei ihren jährlichen „Tag" hinter verschlossenen
Thüren abhält und die Teilnehmer zum Stillschweigen über gewisse Dinge ver¬
pflichtet, so begründet sie damit den Verdacht, daß sie ihre Schwäche oder ihre
Uneinigkeit oder ihre Ratlosigkeit oder noch schlimmeres verbergen wolle. Gleich
den Nntionalliberalen haben auch die Vertreter der deutsch-sozialen Reformpartei
im Dunkeln getagt, und die dürften allerdings noch mehr zu verbergen haben als
jene. Von beiden hat die „Zeit," das neue Organ der Nationalsozialen, recht
gute Charakteristiken gebracht. Wenn, wie aus dem Bericht der Zeit hervorzu¬
gehen scheint, die durch ihren Kampf gegen die Konsumvereine berühmten Sachsen
in der Partei den Ton angeben, wenn auf diesem Parteitage jeder arbeiterfreund¬
liche Vorschlag zurückgewiesen und u. a. die Bäckereiverordnung des Bundesrath
gemißbilligt worden ist, wenn also die Partei das engherzigste Kleinbürgertum und
sonst weiter nichts vertritt, dann wird sie schwerlich das deutsche Reich reformiren
und ihren Namen wohl mit Unrecht tragen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/203>, abgerufen am 19.05.2024.