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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland
Lin Nachklang zur Kaiserkrönung
Aurt Treusch von Buttlar von(Schluß)

le Leute, die in Petersburg und Moskau auf den Straßen zu
sehen sind, zerfallen in vier scharfgeschiedne Gruppen. Da ist
zunächst der Mushik, der Bauer, der Arbeiter: im Winter im
Schafpelz, das Fell nach innen, das rohe Leder nach außen,
klebend vor Schmutz, im Frühjahr im langen Kaftan mit rotem
oder buntem Tuchgürtel, im Sommer im roten oder Rosa-Hemd, das einfach
in die weiten Hosen gesteckt wird. Im Sommer ist er meist barfuß, oder
er trägt Binsensandalen oder auch Filzstiefel, im Winter unförmige, greulich
duftende Schmicrstiefeln; Haar und Bart sind ungepflegt -- das Ganze ein
Ding, um das man, die Hand an der Nase, in möglichst großem Bogen
herumgeht. Auch die Frauen sind, wenn sie nicht in dem prunkenden, aus¬
nahmsweise saubern Festgewand einherstolzieren, schlumpig und nicht sehr
appetitlich gekleidet; in der warmen Jahreszeit tragen sie mit Vorliebe grell
bunte Kattunjacken; unvermeidlich ist das rote oder möglichst bunte Kopftuch,
das unterm Kinn zusammengebunden wird.

Der Mushik besserer Sorte, wie der kleine Hausirer oder der Zeitungs-
verlaufcr, bildet den Übergang zum "echt" russischen Kaufmann, der sich noch
nach der Väter Weise uationalrussisch trügt. Die Kleidung ist eigentlich die
des Bauers, aber sie ist reinlich und anständig. Der Pelz, oft kostbar ge¬
füttert und ausgeschlagen, und der lange dunkelblaue Kaftan geben diesen
langbärtigen, stattlichen Gestalten eine gewisse behäbige Würde. Das Haar
tragen sie, im Nacken ausrasirt, in breitem, rundem, vom Kopf abstehenden
Kranz, das Haupt deckt eine Tuchmütze mit breitem Schirm. Oft sind es
Millionäre, die in dieser altmodischen Tracht durch die Straßen wandeln;
neuerdings, seit der Bauernstolz im russischen Volk geradezu künstlich gezüchtet
worden ist, mag auch mancher ans gewisser Koketterie dieser "Nationaltracht"
treubleiben; in Tolstois Anna Karenina wird eine solche Figur geschildert,




Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland
Lin Nachklang zur Kaiserkrönung
Aurt Treusch von Buttlar von(Schluß)

le Leute, die in Petersburg und Moskau auf den Straßen zu
sehen sind, zerfallen in vier scharfgeschiedne Gruppen. Da ist
zunächst der Mushik, der Bauer, der Arbeiter: im Winter im
Schafpelz, das Fell nach innen, das rohe Leder nach außen,
klebend vor Schmutz, im Frühjahr im langen Kaftan mit rotem
oder buntem Tuchgürtel, im Sommer im roten oder Rosa-Hemd, das einfach
in die weiten Hosen gesteckt wird. Im Sommer ist er meist barfuß, oder
er trägt Binsensandalen oder auch Filzstiefel, im Winter unförmige, greulich
duftende Schmicrstiefeln; Haar und Bart sind ungepflegt — das Ganze ein
Ding, um das man, die Hand an der Nase, in möglichst großem Bogen
herumgeht. Auch die Frauen sind, wenn sie nicht in dem prunkenden, aus¬
nahmsweise saubern Festgewand einherstolzieren, schlumpig und nicht sehr
appetitlich gekleidet; in der warmen Jahreszeit tragen sie mit Vorliebe grell
bunte Kattunjacken; unvermeidlich ist das rote oder möglichst bunte Kopftuch,
das unterm Kinn zusammengebunden wird.

Der Mushik besserer Sorte, wie der kleine Hausirer oder der Zeitungs-
verlaufcr, bildet den Übergang zum „echt" russischen Kaufmann, der sich noch
nach der Väter Weise uationalrussisch trügt. Die Kleidung ist eigentlich die
des Bauers, aber sie ist reinlich und anständig. Der Pelz, oft kostbar ge¬
füttert und ausgeschlagen, und der lange dunkelblaue Kaftan geben diesen
langbärtigen, stattlichen Gestalten eine gewisse behäbige Würde. Das Haar
tragen sie, im Nacken ausrasirt, in breitem, rundem, vom Kopf abstehenden
Kranz, das Haupt deckt eine Tuchmütze mit breitem Schirm. Oft sind es
Millionäre, die in dieser altmodischen Tracht durch die Straßen wandeln;
neuerdings, seit der Bauernstolz im russischen Volk geradezu künstlich gezüchtet
worden ist, mag auch mancher ans gewisser Koketterie dieser „Nationaltracht"
treubleiben; in Tolstois Anna Karenina wird eine solche Figur geschildert,


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[0228] [Abbildung] Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland Lin Nachklang zur Kaiserkrönung Aurt Treusch von Buttlar von(Schluß) le Leute, die in Petersburg und Moskau auf den Straßen zu sehen sind, zerfallen in vier scharfgeschiedne Gruppen. Da ist zunächst der Mushik, der Bauer, der Arbeiter: im Winter im Schafpelz, das Fell nach innen, das rohe Leder nach außen, klebend vor Schmutz, im Frühjahr im langen Kaftan mit rotem oder buntem Tuchgürtel, im Sommer im roten oder Rosa-Hemd, das einfach in die weiten Hosen gesteckt wird. Im Sommer ist er meist barfuß, oder er trägt Binsensandalen oder auch Filzstiefel, im Winter unförmige, greulich duftende Schmicrstiefeln; Haar und Bart sind ungepflegt — das Ganze ein Ding, um das man, die Hand an der Nase, in möglichst großem Bogen herumgeht. Auch die Frauen sind, wenn sie nicht in dem prunkenden, aus¬ nahmsweise saubern Festgewand einherstolzieren, schlumpig und nicht sehr appetitlich gekleidet; in der warmen Jahreszeit tragen sie mit Vorliebe grell bunte Kattunjacken; unvermeidlich ist das rote oder möglichst bunte Kopftuch, das unterm Kinn zusammengebunden wird. Der Mushik besserer Sorte, wie der kleine Hausirer oder der Zeitungs- verlaufcr, bildet den Übergang zum „echt" russischen Kaufmann, der sich noch nach der Väter Weise uationalrussisch trügt. Die Kleidung ist eigentlich die des Bauers, aber sie ist reinlich und anständig. Der Pelz, oft kostbar ge¬ füttert und ausgeschlagen, und der lange dunkelblaue Kaftan geben diesen langbärtigen, stattlichen Gestalten eine gewisse behäbige Würde. Das Haar tragen sie, im Nacken ausrasirt, in breitem, rundem, vom Kopf abstehenden Kranz, das Haupt deckt eine Tuchmütze mit breitem Schirm. Oft sind es Millionäre, die in dieser altmodischen Tracht durch die Straßen wandeln; neuerdings, seit der Bauernstolz im russischen Volk geradezu künstlich gezüchtet worden ist, mag auch mancher ans gewisser Koketterie dieser „Nationaltracht" treubleiben; in Tolstois Anna Karenina wird eine solche Figur geschildert,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/228>, abgerufen am 30.05.2024.