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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die Prozeßführung armer Leute

und der Kunst nimmt sie eine Richtung, um deretwillen Julien oft ein
"armes Kind" entschlüpft, ohne daß Gabriele weiß, wie das gemeint ist. Es
kommen nun sehr interessante, gut gezeichnete Charaktere, ein päpstlicher Kammer¬
herr französischen Bluts, ein schwedischer Gelehrter, daneben wieder gewöhn¬
lichere Staffage. Erst am vorletzten Tage ihres römischen Aufenthalts wird
es Gabriele auf eine ergreifende Weise klar, warum sie nicht für den pom-
merschen Landjunker paßt, dem sie gleichwohl treu bleibt. Das Psychologische
ist von großer Feinheit, und der Hintergrund dazu, die Schilderung der Natur
und der Kunst ist von einer nicht gewöhnlichen Anschaulichkeit. Es wird nicht
viel solche von Dilettanten geschrielme Bücher über Italien geben. Auch wer
die Dinge recht gut zu kennen glaubt, wird manchmal durch eine originelle
Beobachtung angenehm berührt werden. Die Verfasserin hat gut beobachtet.
Das soziale Problem, das auch hier nicht fehlt, steckt in der Amazone Julia.
Das Buch selbst ist aber weit bedeutender als das vorige und kann auch an¬
spruchsvollen Lesern empfohlen werden. Für unsern persönlichen Geschmack
zeigt sich in einem solchen Buche die Frau in der Dichtung in ihrer an¬
genehmsten Form.




Die Prozeßführung armer Leute

aß es bei unsrer Gesetzgebung im preußischen Staate möglich ist,
daß man nicht zu seinem Rechte gelangen kann, werden unsre
wohlsituirten Staatsbürger nicht recht glauben wollen. Und doch
kommt das gar nicht selten vor, wenn Personen, die außer stände
!sind, ohne Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie not¬
wendigen Unterhalts die Kosten des Prozesses zu bestreiten -- und dazu ge¬
hört die große Mehrheit der Bevölkerung --, einen Anspruch auf dem Prozeß-
Wege verfolgen wollen.

Wenn ein Arbeiter einen Anspruch, der zu der Zuständigkeit des Amts¬
gerichts gehört -- andre Ansprüche wird ein Arbeiter selten geltend zu machen
haben --, gegen einen andern, der meilenweit von ihm in einem andern Ge¬
richtsbezirk wohnt, verfolgen will, so wird er sich, da er selbst nicht weiß, wie
er dies anzufangen hat, an einen sogenannten Winkelkonsulenten wenden.
Dieser sagt ihm, er müsse sich zunächst eine Bescheinigung über seine Armut
von der Polizeibehörde besorgen. Kommt er dann mit dieser Bescheinigung
zu dem Winkelkonsulenten zurück, so macht dieser sür ihn ein Gesuch um Be-


Die Prozeßführung armer Leute

und der Kunst nimmt sie eine Richtung, um deretwillen Julien oft ein
„armes Kind" entschlüpft, ohne daß Gabriele weiß, wie das gemeint ist. Es
kommen nun sehr interessante, gut gezeichnete Charaktere, ein päpstlicher Kammer¬
herr französischen Bluts, ein schwedischer Gelehrter, daneben wieder gewöhn¬
lichere Staffage. Erst am vorletzten Tage ihres römischen Aufenthalts wird
es Gabriele auf eine ergreifende Weise klar, warum sie nicht für den pom-
merschen Landjunker paßt, dem sie gleichwohl treu bleibt. Das Psychologische
ist von großer Feinheit, und der Hintergrund dazu, die Schilderung der Natur
und der Kunst ist von einer nicht gewöhnlichen Anschaulichkeit. Es wird nicht
viel solche von Dilettanten geschrielme Bücher über Italien geben. Auch wer
die Dinge recht gut zu kennen glaubt, wird manchmal durch eine originelle
Beobachtung angenehm berührt werden. Die Verfasserin hat gut beobachtet.
Das soziale Problem, das auch hier nicht fehlt, steckt in der Amazone Julia.
Das Buch selbst ist aber weit bedeutender als das vorige und kann auch an¬
spruchsvollen Lesern empfohlen werden. Für unsern persönlichen Geschmack
zeigt sich in einem solchen Buche die Frau in der Dichtung in ihrer an¬
genehmsten Form.




Die Prozeßführung armer Leute

aß es bei unsrer Gesetzgebung im preußischen Staate möglich ist,
daß man nicht zu seinem Rechte gelangen kann, werden unsre
wohlsituirten Staatsbürger nicht recht glauben wollen. Und doch
kommt das gar nicht selten vor, wenn Personen, die außer stände
!sind, ohne Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie not¬
wendigen Unterhalts die Kosten des Prozesses zu bestreiten — und dazu ge¬
hört die große Mehrheit der Bevölkerung —, einen Anspruch auf dem Prozeß-
Wege verfolgen wollen.

Wenn ein Arbeiter einen Anspruch, der zu der Zuständigkeit des Amts¬
gerichts gehört — andre Ansprüche wird ein Arbeiter selten geltend zu machen
haben —, gegen einen andern, der meilenweit von ihm in einem andern Ge¬
richtsbezirk wohnt, verfolgen will, so wird er sich, da er selbst nicht weiß, wie
er dies anzufangen hat, an einen sogenannten Winkelkonsulenten wenden.
Dieser sagt ihm, er müsse sich zunächst eine Bescheinigung über seine Armut
von der Polizeibehörde besorgen. Kommt er dann mit dieser Bescheinigung
zu dem Winkelkonsulenten zurück, so macht dieser sür ihn ein Gesuch um Be-


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[0485] Die Prozeßführung armer Leute und der Kunst nimmt sie eine Richtung, um deretwillen Julien oft ein „armes Kind" entschlüpft, ohne daß Gabriele weiß, wie das gemeint ist. Es kommen nun sehr interessante, gut gezeichnete Charaktere, ein päpstlicher Kammer¬ herr französischen Bluts, ein schwedischer Gelehrter, daneben wieder gewöhn¬ lichere Staffage. Erst am vorletzten Tage ihres römischen Aufenthalts wird es Gabriele auf eine ergreifende Weise klar, warum sie nicht für den pom- merschen Landjunker paßt, dem sie gleichwohl treu bleibt. Das Psychologische ist von großer Feinheit, und der Hintergrund dazu, die Schilderung der Natur und der Kunst ist von einer nicht gewöhnlichen Anschaulichkeit. Es wird nicht viel solche von Dilettanten geschrielme Bücher über Italien geben. Auch wer die Dinge recht gut zu kennen glaubt, wird manchmal durch eine originelle Beobachtung angenehm berührt werden. Die Verfasserin hat gut beobachtet. Das soziale Problem, das auch hier nicht fehlt, steckt in der Amazone Julia. Das Buch selbst ist aber weit bedeutender als das vorige und kann auch an¬ spruchsvollen Lesern empfohlen werden. Für unsern persönlichen Geschmack zeigt sich in einem solchen Buche die Frau in der Dichtung in ihrer an¬ genehmsten Form. Die Prozeßführung armer Leute aß es bei unsrer Gesetzgebung im preußischen Staate möglich ist, daß man nicht zu seinem Rechte gelangen kann, werden unsre wohlsituirten Staatsbürger nicht recht glauben wollen. Und doch kommt das gar nicht selten vor, wenn Personen, die außer stände !sind, ohne Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie not¬ wendigen Unterhalts die Kosten des Prozesses zu bestreiten — und dazu ge¬ hört die große Mehrheit der Bevölkerung —, einen Anspruch auf dem Prozeß- Wege verfolgen wollen. Wenn ein Arbeiter einen Anspruch, der zu der Zuständigkeit des Amts¬ gerichts gehört — andre Ansprüche wird ein Arbeiter selten geltend zu machen haben —, gegen einen andern, der meilenweit von ihm in einem andern Ge¬ richtsbezirk wohnt, verfolgen will, so wird er sich, da er selbst nicht weiß, wie er dies anzufangen hat, an einen sogenannten Winkelkonsulenten wenden. Dieser sagt ihm, er müsse sich zunächst eine Bescheinigung über seine Armut von der Polizeibehörde besorgen. Kommt er dann mit dieser Bescheinigung zu dem Winkelkonsulenten zurück, so macht dieser sür ihn ein Gesuch um Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/485>, abgerufen am 30.05.2024.