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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

können?" Als Antwort scheint mir die meines Jungen ans die Frcige seiner
Mutter: "Müssen denn alle Tage Schneeballschlachten sein?" auch hier passend
zu sein: "Ja, sie müssen." Denn welchen Sinn hätte es, ein Trinkgefäß zu
gestalten, in der Voraussicht, daß es nie benutzt werden kann? Etwa, um sich
des harmonischen Spiels der Linien zu erfreuen? Ist denn dazu die Form eines
Gefäßes von nöten? Bildet diese nicht vielmehr ein Hindernis -- hier ein ganz
unnötiges -- für die Entfaltung einer freiern Linien- und Formengebung?

Wenn Herrn Professor Köpping die Herstellung gläserner Blumen so wünschens¬
wert erscheint (uns nicht!), warum legt er sich den Zwang auf, sie als Gefäße zu
gestalten, da er sie doch als solche eingestandnermaßen gar nicht benutzen will?
Warum treibt er die Nachahmung der natürlichen Blume, an der ihm so viel ge¬
legen ist, daß er ihr die Zweckmäßigkeit des Gefäßes opfert, nicht weiter, nicht
zur möglichsten Vollendung? Warum läßt er sich all die reizvollen Einzelheiten
entgehen, die die Technik durchaus gestattet, und die sich auf vielen venetianischen
Gläsern in entzückender Naturtreue finden, ohne daß dadurch deren Verwendbarkeit
beeinträchtigt wäre?

Wenn der Herr Professor das alles nicht thut, fo beweist er damit keines¬
wegs "ein weises Maßhalten," "einen feinen Sinn für die Grenzlinie des natura¬
listischen und Idealistischen," und wie die schönen Redensarten lauten, sondern eine
großartige Verständnislosigkeit sür das, was man unter Stil versteht. Wir sind
gern gewillt anzunehmen, daß er im besten Glauben an die Unwiderstehlichkeit
feiner Kinder diese Wechselbälge bei Museen und Publikum unterzubringen sucht.
Aber nicht minder fest steht uns der Glaube, daß, wenn der Künstler nicht eine
so angesehene Stellung einnähme, die Kritik minder gedankenlos zustimmend Ver¬
fahren sein würde.

Dem schon erwähnten Kritiker des Leipziger Blattes, der die Forderung:
"Erst vernünftig, dann schön" als Nützlichkeitsfanatismus betrachtet, möchte ich als
nachträgliches Nenjahrsgeschenk ein Paar schöne Stiefel, die nicht anzuziehen, und
einen schönen Hut, der nicht aufzusetzen ist, wünschen. Er könnte sie auf ein Bord
seines Zimmers zu den Köppingschen "Ziergläsern" stellen und darunter seine
geistvolle Bemerkung setzen: "Wird einer von den Blumen verlangen, daß sie ge¬
gessen werden können? Ich glaube, daß er an dem Anblick dieser Zierstllcke in
acht Tagen genug haben würde.


Georg Bötticher


Litteratur
Hand- und Lehrbuch der Stnatswissenschnsten in selbständigen Banden, herausgegeben
von Kuno Frankenstein. II, Abteilung: Finanzwissenschaft. 2, Band: Die Steuern;
allgemeiner Teil von Dr. Albert Schaffte, k. k. Minister n. D. Leipzig, C, L, Hirschfeld, 1805

Der vorliegende Band des von uns wiederholt empfohlnen Werkes gehört zu
denen, die einen unmittelbar praktischen Wert haben. Schaffte ist nicht der Ansicht,
daß sich die Staatswissenschaften auf jener Höhe der reinen Theorie zu halten
hatten, wohin kein Parteikampf reicht; er greift ins Leben frisch hinein, ohne


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können?" Als Antwort scheint mir die meines Jungen ans die Frcige seiner
Mutter: „Müssen denn alle Tage Schneeballschlachten sein?" auch hier passend
zu sein: „Ja, sie müssen." Denn welchen Sinn hätte es, ein Trinkgefäß zu
gestalten, in der Voraussicht, daß es nie benutzt werden kann? Etwa, um sich
des harmonischen Spiels der Linien zu erfreuen? Ist denn dazu die Form eines
Gefäßes von nöten? Bildet diese nicht vielmehr ein Hindernis — hier ein ganz
unnötiges — für die Entfaltung einer freiern Linien- und Formengebung?

Wenn Herrn Professor Köpping die Herstellung gläserner Blumen so wünschens¬
wert erscheint (uns nicht!), warum legt er sich den Zwang auf, sie als Gefäße zu
gestalten, da er sie doch als solche eingestandnermaßen gar nicht benutzen will?
Warum treibt er die Nachahmung der natürlichen Blume, an der ihm so viel ge¬
legen ist, daß er ihr die Zweckmäßigkeit des Gefäßes opfert, nicht weiter, nicht
zur möglichsten Vollendung? Warum läßt er sich all die reizvollen Einzelheiten
entgehen, die die Technik durchaus gestattet, und die sich auf vielen venetianischen
Gläsern in entzückender Naturtreue finden, ohne daß dadurch deren Verwendbarkeit
beeinträchtigt wäre?

Wenn der Herr Professor das alles nicht thut, fo beweist er damit keines¬
wegs „ein weises Maßhalten," „einen feinen Sinn für die Grenzlinie des natura¬
listischen und Idealistischen," und wie die schönen Redensarten lauten, sondern eine
großartige Verständnislosigkeit sür das, was man unter Stil versteht. Wir sind
gern gewillt anzunehmen, daß er im besten Glauben an die Unwiderstehlichkeit
feiner Kinder diese Wechselbälge bei Museen und Publikum unterzubringen sucht.
Aber nicht minder fest steht uns der Glaube, daß, wenn der Künstler nicht eine
so angesehene Stellung einnähme, die Kritik minder gedankenlos zustimmend Ver¬
fahren sein würde.

Dem schon erwähnten Kritiker des Leipziger Blattes, der die Forderung:
„Erst vernünftig, dann schön" als Nützlichkeitsfanatismus betrachtet, möchte ich als
nachträgliches Nenjahrsgeschenk ein Paar schöne Stiefel, die nicht anzuziehen, und
einen schönen Hut, der nicht aufzusetzen ist, wünschen. Er könnte sie auf ein Bord
seines Zimmers zu den Köppingschen „Ziergläsern" stellen und darunter seine
geistvolle Bemerkung setzen: „Wird einer von den Blumen verlangen, daß sie ge¬
gessen werden können? Ich glaube, daß er an dem Anblick dieser Zierstllcke in
acht Tagen genug haben würde.


Georg Bötticher


Litteratur
Hand- und Lehrbuch der Stnatswissenschnsten in selbständigen Banden, herausgegeben
von Kuno Frankenstein. II, Abteilung: Finanzwissenschaft. 2, Band: Die Steuern;
allgemeiner Teil von Dr. Albert Schaffte, k. k. Minister n. D. Leipzig, C, L, Hirschfeld, 1805

Der vorliegende Band des von uns wiederholt empfohlnen Werkes gehört zu
denen, die einen unmittelbar praktischen Wert haben. Schaffte ist nicht der Ansicht,
daß sich die Staatswissenschaften auf jener Höhe der reinen Theorie zu halten
hatten, wohin kein Parteikampf reicht; er greift ins Leben frisch hinein, ohne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/110>, abgerufen am 01.05.2024.