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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Aelter und seine Novellen

der Musik "och so gut wie nicht betreten sind. Welch ein Liederheft könnten
z.B. die Lieder an Lili werden, wenn ein Meister wie Vrahms darüberküme!
Lieder an Lili? Wo stehen die denn? Ja, die stehen zerstreut, man muß sie
sich zusammensuchen. Hier sind sie, uach der Zeitfolge geordnet und zu einer
Liebesgeschichte verbunden, so ergreifend wie Schuberts Müllerlieder: Herz,
mein Herz, was soll das geben -- Warum ziehst du mich unwiderstehlich -
Den kleinen Strauß, den ich hier binde -- Und frische Nahrung, neues Blut
Wenn ich, liebe Lili, dich uicht liebte -- Angedenken du verkluugner Freude -
Holde Lili, warst so lang -- Im holden Thal, auf schneebedeckten Höhen -
Trocknet nicht, Thränen der heiligen Liebe -- Im Felde Schleich ich still und
wild. Wer wagt sich dran?


Gustav ZV "stmann


Gottfried Keller und seine Novellen
v Rarl Ainzel on (in

u eingehender Beschäftigung mit einem Dichter wird der Literar¬
historiker nicht immer bloß durch Neigung zu seinem Gegenstand
oder durch innere Übereinstimmung mit seinen Lebensanschauungen
oder durch Liebe und Bewunderung getrieben. Oft ist es ein
eigentümliches Zusammentreffen äußerer Umstände, die von lange
her immer wieder mahnend an ihn herantreten, oder innere Erlebnisse, die ihn
drängen, einer Erscheinung seine Aufmerksamkeit zu widmen, an der er sonst
nur sinnend vorübergegangen wäre. Daß Gottfried Keller, der Dichter des
"Grünen Heinrich" und der "Leute von Seldwyla," von vielen geliebt wird,
war mir lange bekannt und bei den meisten nach seiner und ihrer Art auch
wohl begreiflich. Daß ihn einzelne Kritiker hoch schätzten und über seinen
großen Vorzügen die Schattenseiten seines Wesens vergaßen, war mir schon
empfindlicher und regte mich zu immer neuer Betrachtung und Untersuchung
an. Daß sich aber in neuer Zeit mehr und mehr eine maßlose Überschätzung
dieses schweizerischen Erzählers breitmacht und festsetzt, daß man ihn zu einem
der Größten, zu einem Klassiker zu stempeln und auch nach seiner ganzen
Persönlichkeit den Besten unsers Volkes und Geistes zuzurechnen bestrebt ist, ja
jeden, der diesen: Urteil nicht blindlings beizustimmen geneigt ist, verächtlich
ansieht und als "minderwertig" betrachtet, das reizte meinen Widerspruch und
machte den Drang in mir unwiderstehlich, ein nach allen Seiten gerecht ab¬
wägendes Urteil zu gewinnen und zu begründen.


Gottfried Aelter und seine Novellen

der Musik »och so gut wie nicht betreten sind. Welch ein Liederheft könnten
z.B. die Lieder an Lili werden, wenn ein Meister wie Vrahms darüberküme!
Lieder an Lili? Wo stehen die denn? Ja, die stehen zerstreut, man muß sie
sich zusammensuchen. Hier sind sie, uach der Zeitfolge geordnet und zu einer
Liebesgeschichte verbunden, so ergreifend wie Schuberts Müllerlieder: Herz,
mein Herz, was soll das geben — Warum ziehst du mich unwiderstehlich -
Den kleinen Strauß, den ich hier binde — Und frische Nahrung, neues Blut
Wenn ich, liebe Lili, dich uicht liebte — Angedenken du verkluugner Freude -
Holde Lili, warst so lang — Im holden Thal, auf schneebedeckten Höhen -
Trocknet nicht, Thränen der heiligen Liebe — Im Felde Schleich ich still und
wild. Wer wagt sich dran?


Gustav ZV »stmann


Gottfried Keller und seine Novellen
v Rarl Ainzel on (in

u eingehender Beschäftigung mit einem Dichter wird der Literar¬
historiker nicht immer bloß durch Neigung zu seinem Gegenstand
oder durch innere Übereinstimmung mit seinen Lebensanschauungen
oder durch Liebe und Bewunderung getrieben. Oft ist es ein
eigentümliches Zusammentreffen äußerer Umstände, die von lange
her immer wieder mahnend an ihn herantreten, oder innere Erlebnisse, die ihn
drängen, einer Erscheinung seine Aufmerksamkeit zu widmen, an der er sonst
nur sinnend vorübergegangen wäre. Daß Gottfried Keller, der Dichter des
„Grünen Heinrich" und der „Leute von Seldwyla," von vielen geliebt wird,
war mir lange bekannt und bei den meisten nach seiner und ihrer Art auch
wohl begreiflich. Daß ihn einzelne Kritiker hoch schätzten und über seinen
großen Vorzügen die Schattenseiten seines Wesens vergaßen, war mir schon
empfindlicher und regte mich zu immer neuer Betrachtung und Untersuchung
an. Daß sich aber in neuer Zeit mehr und mehr eine maßlose Überschätzung
dieses schweizerischen Erzählers breitmacht und festsetzt, daß man ihn zu einem
der Größten, zu einem Klassiker zu stempeln und auch nach seiner ganzen
Persönlichkeit den Besten unsers Volkes und Geistes zuzurechnen bestrebt ist, ja
jeden, der diesen: Urteil nicht blindlings beizustimmen geneigt ist, verächtlich
ansieht und als „minderwertig" betrachtet, das reizte meinen Widerspruch und
machte den Drang in mir unwiderstehlich, ein nach allen Seiten gerecht ab¬
wägendes Urteil zu gewinnen und zu begründen.


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[0452] Gottfried Aelter und seine Novellen der Musik »och so gut wie nicht betreten sind. Welch ein Liederheft könnten z.B. die Lieder an Lili werden, wenn ein Meister wie Vrahms darüberküme! Lieder an Lili? Wo stehen die denn? Ja, die stehen zerstreut, man muß sie sich zusammensuchen. Hier sind sie, uach der Zeitfolge geordnet und zu einer Liebesgeschichte verbunden, so ergreifend wie Schuberts Müllerlieder: Herz, mein Herz, was soll das geben — Warum ziehst du mich unwiderstehlich - Den kleinen Strauß, den ich hier binde — Und frische Nahrung, neues Blut Wenn ich, liebe Lili, dich uicht liebte — Angedenken du verkluugner Freude - Holde Lili, warst so lang — Im holden Thal, auf schneebedeckten Höhen - Trocknet nicht, Thränen der heiligen Liebe — Im Felde Schleich ich still und wild. Wer wagt sich dran? Gustav ZV »stmann Gottfried Keller und seine Novellen v Rarl Ainzel on (in u eingehender Beschäftigung mit einem Dichter wird der Literar¬ historiker nicht immer bloß durch Neigung zu seinem Gegenstand oder durch innere Übereinstimmung mit seinen Lebensanschauungen oder durch Liebe und Bewunderung getrieben. Oft ist es ein eigentümliches Zusammentreffen äußerer Umstände, die von lange her immer wieder mahnend an ihn herantreten, oder innere Erlebnisse, die ihn drängen, einer Erscheinung seine Aufmerksamkeit zu widmen, an der er sonst nur sinnend vorübergegangen wäre. Daß Gottfried Keller, der Dichter des „Grünen Heinrich" und der „Leute von Seldwyla," von vielen geliebt wird, war mir lange bekannt und bei den meisten nach seiner und ihrer Art auch wohl begreiflich. Daß ihn einzelne Kritiker hoch schätzten und über seinen großen Vorzügen die Schattenseiten seines Wesens vergaßen, war mir schon empfindlicher und regte mich zu immer neuer Betrachtung und Untersuchung an. Daß sich aber in neuer Zeit mehr und mehr eine maßlose Überschätzung dieses schweizerischen Erzählers breitmacht und festsetzt, daß man ihn zu einem der Größten, zu einem Klassiker zu stempeln und auch nach seiner ganzen Persönlichkeit den Besten unsers Volkes und Geistes zuzurechnen bestrebt ist, ja jeden, der diesen: Urteil nicht blindlings beizustimmen geneigt ist, verächtlich ansieht und als „minderwertig" betrachtet, das reizte meinen Widerspruch und machte den Drang in mir unwiderstehlich, ein nach allen Seiten gerecht ab¬ wägendes Urteil zu gewinnen und zu begründen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/452>, abgerufen am 01.05.2024.