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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

beredte Zeuge der Herrlichkeit seines Vaterlands gewesen, denn nicht die Gro߬
thaten seines Volks oder einzelner Helden schilderte sein Pinsel, sondern das
einfache, alltägliche bürgerliche Leben, dessen urwüchsiger Kraft alle die Tugenden
entsprvßten, die die Größe eines Volks und die Blüte eines Staats bedingen,
war der würdige Vorwurf des Künstlers, der, als echter Sohn seiner Zeit
und seines Volks, mit wahrem Künstlerstolz es verschmähte, dasjenige zu ver¬
herrlichen, was nach den herrschenden Begriffen nur die Erfüllung der Bürger¬
pflicht war." Die "Herren Staaten" bildeten einen Senat gleich dem römischen,
dessen politische Weisheit nicht an eine einzelne Persönlichkeit gebunden war;
ihren bedeutendsten und verdientesten Staatsmann nach Wilhelm, Oldenbarne-
veldt, opferten sie auf dem Schaffst, weil es das Gemeinwohl zu erfordern
schien, und Hugo Grotius verbannten sie, aber dadurch wurden sie nicht
unfähig, die Politik Europas uoch ein halbes Jahrhundert hindurch zu be¬
herrschen. Daß sie ihre Stellung auf die Dauer nicht behaupten konnten, lag
an der Kleinheit ihres Landes, die freilich auch die Bedingung ihrer vorüber¬
gehenden Größe gewesen war, weil solche Gleichförmigkeit der Gesinnung und
des Charakters bei großer Regsamkeit jedes Einzelnen nur auf einem kleinen
Gebiete möglich ist. Die Einigkeit wurde auch so schon nur durch die gemein¬
same Gefahr erhalten; sobald diese nachließ, sah man sich zunächst genötigt,
die Verfassung aristokratisch zu gestalten, und die immer bequemer werdenden
reichen Kaufherren ließen dann allmählich die Aristokratie in die Monarchie
übergehen.

(Schluß folgt)




Neue Novellen

le deutsche Novelle, wohlverstanden die poetisch gehaltvolle,
künstlerisch reife Novelle, die nach dem Ausspruch eiues ihrer
bedeutendsten Vertreter, Theodor Sturms, "gleich dem Drama
die tiefsten Probleme des Menschenlebens behandelt, die höchsten
Forderungen der Kunst nicht nur duldet, sondern auch stellt,"
mit einem Worte "die strengste Form der Prosadichtung" ist, hat ihre Blüte¬
zeit entschieden in den fünfziger bis siebziger Jcihreu gehabt. Freilich ist auch
damals die Zahl der bloßen Erzähler weit größer gewesen als die der er¬
zählenden Dichter, und ein gewisser Teil des Publikums hat mit der angenehmen
Gleichgiltigkeit, mit der die weidende Herde schlichtes Gras und blühende
Blumen zwischen die Zähne bringt, platte Unterhaltungsgeschichten und wahre


Grenzboten I 1897 74
Neue Novellen

beredte Zeuge der Herrlichkeit seines Vaterlands gewesen, denn nicht die Gro߬
thaten seines Volks oder einzelner Helden schilderte sein Pinsel, sondern das
einfache, alltägliche bürgerliche Leben, dessen urwüchsiger Kraft alle die Tugenden
entsprvßten, die die Größe eines Volks und die Blüte eines Staats bedingen,
war der würdige Vorwurf des Künstlers, der, als echter Sohn seiner Zeit
und seines Volks, mit wahrem Künstlerstolz es verschmähte, dasjenige zu ver¬
herrlichen, was nach den herrschenden Begriffen nur die Erfüllung der Bürger¬
pflicht war." Die „Herren Staaten" bildeten einen Senat gleich dem römischen,
dessen politische Weisheit nicht an eine einzelne Persönlichkeit gebunden war;
ihren bedeutendsten und verdientesten Staatsmann nach Wilhelm, Oldenbarne-
veldt, opferten sie auf dem Schaffst, weil es das Gemeinwohl zu erfordern
schien, und Hugo Grotius verbannten sie, aber dadurch wurden sie nicht
unfähig, die Politik Europas uoch ein halbes Jahrhundert hindurch zu be¬
herrschen. Daß sie ihre Stellung auf die Dauer nicht behaupten konnten, lag
an der Kleinheit ihres Landes, die freilich auch die Bedingung ihrer vorüber¬
gehenden Größe gewesen war, weil solche Gleichförmigkeit der Gesinnung und
des Charakters bei großer Regsamkeit jedes Einzelnen nur auf einem kleinen
Gebiete möglich ist. Die Einigkeit wurde auch so schon nur durch die gemein¬
same Gefahr erhalten; sobald diese nachließ, sah man sich zunächst genötigt,
die Verfassung aristokratisch zu gestalten, und die immer bequemer werdenden
reichen Kaufherren ließen dann allmählich die Aristokratie in die Monarchie
übergehen.

(Schluß folgt)




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le deutsche Novelle, wohlverstanden die poetisch gehaltvolle,
künstlerisch reife Novelle, die nach dem Ausspruch eiues ihrer
bedeutendsten Vertreter, Theodor Sturms, „gleich dem Drama
die tiefsten Probleme des Menschenlebens behandelt, die höchsten
Forderungen der Kunst nicht nur duldet, sondern auch stellt,"
mit einem Worte „die strengste Form der Prosadichtung" ist, hat ihre Blüte¬
zeit entschieden in den fünfziger bis siebziger Jcihreu gehabt. Freilich ist auch
damals die Zahl der bloßen Erzähler weit größer gewesen als die der er¬
zählenden Dichter, und ein gewisser Teil des Publikums hat mit der angenehmen
Gleichgiltigkeit, mit der die weidende Herde schlichtes Gras und blühende
Blumen zwischen die Zähne bringt, platte Unterhaltungsgeschichten und wahre


Grenzboten I 1897 74
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[0593] Neue Novellen beredte Zeuge der Herrlichkeit seines Vaterlands gewesen, denn nicht die Gro߬ thaten seines Volks oder einzelner Helden schilderte sein Pinsel, sondern das einfache, alltägliche bürgerliche Leben, dessen urwüchsiger Kraft alle die Tugenden entsprvßten, die die Größe eines Volks und die Blüte eines Staats bedingen, war der würdige Vorwurf des Künstlers, der, als echter Sohn seiner Zeit und seines Volks, mit wahrem Künstlerstolz es verschmähte, dasjenige zu ver¬ herrlichen, was nach den herrschenden Begriffen nur die Erfüllung der Bürger¬ pflicht war." Die „Herren Staaten" bildeten einen Senat gleich dem römischen, dessen politische Weisheit nicht an eine einzelne Persönlichkeit gebunden war; ihren bedeutendsten und verdientesten Staatsmann nach Wilhelm, Oldenbarne- veldt, opferten sie auf dem Schaffst, weil es das Gemeinwohl zu erfordern schien, und Hugo Grotius verbannten sie, aber dadurch wurden sie nicht unfähig, die Politik Europas uoch ein halbes Jahrhundert hindurch zu be¬ herrschen. Daß sie ihre Stellung auf die Dauer nicht behaupten konnten, lag an der Kleinheit ihres Landes, die freilich auch die Bedingung ihrer vorüber¬ gehenden Größe gewesen war, weil solche Gleichförmigkeit der Gesinnung und des Charakters bei großer Regsamkeit jedes Einzelnen nur auf einem kleinen Gebiete möglich ist. Die Einigkeit wurde auch so schon nur durch die gemein¬ same Gefahr erhalten; sobald diese nachließ, sah man sich zunächst genötigt, die Verfassung aristokratisch zu gestalten, und die immer bequemer werdenden reichen Kaufherren ließen dann allmählich die Aristokratie in die Monarchie übergehen. (Schluß folgt) Neue Novellen le deutsche Novelle, wohlverstanden die poetisch gehaltvolle, künstlerisch reife Novelle, die nach dem Ausspruch eiues ihrer bedeutendsten Vertreter, Theodor Sturms, „gleich dem Drama die tiefsten Probleme des Menschenlebens behandelt, die höchsten Forderungen der Kunst nicht nur duldet, sondern auch stellt," mit einem Worte „die strengste Form der Prosadichtung" ist, hat ihre Blüte¬ zeit entschieden in den fünfziger bis siebziger Jcihreu gehabt. Freilich ist auch damals die Zahl der bloßen Erzähler weit größer gewesen als die der er¬ zählenden Dichter, und ein gewisser Teil des Publikums hat mit der angenehmen Gleichgiltigkeit, mit der die weidende Herde schlichtes Gras und blühende Blumen zwischen die Zähne bringt, platte Unterhaltungsgeschichten und wahre Grenzboten I 1897 74

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/593>, abgerufen am 01.05.2024.