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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Verfall des historischen Romans

en reinen Typus des "Verlornen Sohnes" kennen wir von
Jugend auf aus der biblischen Parabel, den des "verstoßenen
Sohnes" hat Shakespeare in der Gestalt des jungen Edgar
Gloster im "König Lear" ergreifend dargestellt. Leider bringt
es das Wesen der Welt mit sich, daß beide Typen selten ganz
rein, dagegen unzähligemal gemischt erscheinen. Wenn auf litterarischem Gebiete
mit kühner Personifikation der historische Roman bald der Verlorne Sohn, bald
der verstoßene Sohn der deutschen Dichtung der Gegenwart genannt wird, so
fürchten wir, daß er in wunderbarer und wechselnder Mischung beide Söhne
vorstellen kann. So wahr es sein mag, daß die launenvolle Ästhetik der
"Moderne" den historischen Roman auf Gründe hin verstößt, die ungefähr so
vollwichtig sind wie der gefälschte Bries, den der Bastard Edmund dem alten
Gloster unterbreitet, und auf den hin Edgar ins Elend gejagt wird, so ist es
doch nicht minder wahr, daß der historische Roman zuvor sinnlos ausgezogen
ist, um sein Erbteil zu verschlemmeu. Ob der neuere historische Roman mehr
verdorbner und Verlorner oder mehr verstoßener Sohn sei, ist schwer zu ent¬
scheiden. Aber in dem einen wie in dem andern Falle ist er darum noch nicht
tot, der verlorne kann sich heimfinden, der verstoßene wieder zu Gnaden an¬
genommen werden. Nur darf er, obwohl ihm Unrecht geschehen ist, seine eignen
Sünden nicht beschönigen, und noch weniger darf es gerade die Kritik, die die
Vorurteile der Mode nicht teilt, die den Verfall des historischen Romans be¬
klagt, aber freilich durch die Thatsache allein, daß er noch zerlumpt im Lande
umherzieht, nicht zu Freudenthränen bewegt werden kann.

Daß weniger historische Romane in Deutschland geschrieben werden als
vor einem Jahrzehnt, wird kein Verständiger als ein Unglück beklagen. Wenn
noch viel, viel weniger geschrieben würden, aber die wenigen gut, wenn die
Dilettanten, Halbdilettanten und braven Schulmeister, die um die Wette diese
lebensvolle, eigenartige, wirkungsreiche poetische Form mißverstehen, endlich
einmal die Voraussetzungen und Forderungen des wahrhaft dichterischen histo¬
rischen Romans begriffen, wenn sie begriffen, daß die Schöpfung eines echten
historischen Romans eine der schwierigsten Aufgaben ist, und die Hand aus
dem Spiel ließen, so wäre das ein wahres Glück. Zunächst geschieht das




Der Verfall des historischen Romans

en reinen Typus des „Verlornen Sohnes" kennen wir von
Jugend auf aus der biblischen Parabel, den des „verstoßenen
Sohnes" hat Shakespeare in der Gestalt des jungen Edgar
Gloster im „König Lear" ergreifend dargestellt. Leider bringt
es das Wesen der Welt mit sich, daß beide Typen selten ganz
rein, dagegen unzähligemal gemischt erscheinen. Wenn auf litterarischem Gebiete
mit kühner Personifikation der historische Roman bald der Verlorne Sohn, bald
der verstoßene Sohn der deutschen Dichtung der Gegenwart genannt wird, so
fürchten wir, daß er in wunderbarer und wechselnder Mischung beide Söhne
vorstellen kann. So wahr es sein mag, daß die launenvolle Ästhetik der
„Moderne" den historischen Roman auf Gründe hin verstößt, die ungefähr so
vollwichtig sind wie der gefälschte Bries, den der Bastard Edmund dem alten
Gloster unterbreitet, und auf den hin Edgar ins Elend gejagt wird, so ist es
doch nicht minder wahr, daß der historische Roman zuvor sinnlos ausgezogen
ist, um sein Erbteil zu verschlemmeu. Ob der neuere historische Roman mehr
verdorbner und Verlorner oder mehr verstoßener Sohn sei, ist schwer zu ent¬
scheiden. Aber in dem einen wie in dem andern Falle ist er darum noch nicht
tot, der verlorne kann sich heimfinden, der verstoßene wieder zu Gnaden an¬
genommen werden. Nur darf er, obwohl ihm Unrecht geschehen ist, seine eignen
Sünden nicht beschönigen, und noch weniger darf es gerade die Kritik, die die
Vorurteile der Mode nicht teilt, die den Verfall des historischen Romans be¬
klagt, aber freilich durch die Thatsache allein, daß er noch zerlumpt im Lande
umherzieht, nicht zu Freudenthränen bewegt werden kann.

Daß weniger historische Romane in Deutschland geschrieben werden als
vor einem Jahrzehnt, wird kein Verständiger als ein Unglück beklagen. Wenn
noch viel, viel weniger geschrieben würden, aber die wenigen gut, wenn die
Dilettanten, Halbdilettanten und braven Schulmeister, die um die Wette diese
lebensvolle, eigenartige, wirkungsreiche poetische Form mißverstehen, endlich
einmal die Voraussetzungen und Forderungen des wahrhaft dichterischen histo¬
rischen Romans begriffen, wenn sie begriffen, daß die Schöpfung eines echten
historischen Romans eine der schwierigsten Aufgaben ist, und die Hand aus
dem Spiel ließen, so wäre das ein wahres Glück. Zunächst geschieht das


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[0091] [Abbildung] Der Verfall des historischen Romans en reinen Typus des „Verlornen Sohnes" kennen wir von Jugend auf aus der biblischen Parabel, den des „verstoßenen Sohnes" hat Shakespeare in der Gestalt des jungen Edgar Gloster im „König Lear" ergreifend dargestellt. Leider bringt es das Wesen der Welt mit sich, daß beide Typen selten ganz rein, dagegen unzähligemal gemischt erscheinen. Wenn auf litterarischem Gebiete mit kühner Personifikation der historische Roman bald der Verlorne Sohn, bald der verstoßene Sohn der deutschen Dichtung der Gegenwart genannt wird, so fürchten wir, daß er in wunderbarer und wechselnder Mischung beide Söhne vorstellen kann. So wahr es sein mag, daß die launenvolle Ästhetik der „Moderne" den historischen Roman auf Gründe hin verstößt, die ungefähr so vollwichtig sind wie der gefälschte Bries, den der Bastard Edmund dem alten Gloster unterbreitet, und auf den hin Edgar ins Elend gejagt wird, so ist es doch nicht minder wahr, daß der historische Roman zuvor sinnlos ausgezogen ist, um sein Erbteil zu verschlemmeu. Ob der neuere historische Roman mehr verdorbner und Verlorner oder mehr verstoßener Sohn sei, ist schwer zu ent¬ scheiden. Aber in dem einen wie in dem andern Falle ist er darum noch nicht tot, der verlorne kann sich heimfinden, der verstoßene wieder zu Gnaden an¬ genommen werden. Nur darf er, obwohl ihm Unrecht geschehen ist, seine eignen Sünden nicht beschönigen, und noch weniger darf es gerade die Kritik, die die Vorurteile der Mode nicht teilt, die den Verfall des historischen Romans be¬ klagt, aber freilich durch die Thatsache allein, daß er noch zerlumpt im Lande umherzieht, nicht zu Freudenthränen bewegt werden kann. Daß weniger historische Romane in Deutschland geschrieben werden als vor einem Jahrzehnt, wird kein Verständiger als ein Unglück beklagen. Wenn noch viel, viel weniger geschrieben würden, aber die wenigen gut, wenn die Dilettanten, Halbdilettanten und braven Schulmeister, die um die Wette diese lebensvolle, eigenartige, wirkungsreiche poetische Form mißverstehen, endlich einmal die Voraussetzungen und Forderungen des wahrhaft dichterischen histo¬ rischen Romans begriffen, wenn sie begriffen, daß die Schöpfung eines echten historischen Romans eine der schwierigsten Aufgaben ist, und die Hand aus dem Spiel ließen, so wäre das ein wahres Glück. Zunächst geschieht das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/91>, abgerufen am 01.05.2024.