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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Mdaskinder
Hermann Geser von (Fortsetzung)

ut nun kommt der Junge mit der Ziege, befahl Ernst.

Ja, nun kommt er! Ich ging als Student einmal allein das
Böstenbachthnl hinauf. Oben, wo es sich ganz verengt -- du erinnerst
dich, wo das Bauernhaus am Bache steht, und die Straße so am
Dache herführt, daß das Heu mit dem Karren unmittelbar vom
Wege auf den Heuboden gefahren werden kann --, war ein Quell,
der dem Hofe gegenüber-aus der felsigen, mit Ephen reichlich bezognen Straßen-
böschnng hervorbrach. Er siel ganz krystallklnr durch eine hölzerne Rinne in einen
steinernen Brunnentrog. An dem Troge stand ein Knabe, um zu schöpfen.
Als er meine Schritte hörte, sah er mir entgegen und stand leicht an die
steinerne Kufe gelehnt wie ein vollkommnes Bild. Das schwarze Haar lag un¬
geordnet und doch voll Anmut über der wohlgeformten Stirn, und aus dein
hübschen, gebräunten Gesicht brach ein offner, fast blitzender Blick. Die Haltung
des Körpers, die Stellung der Füße, alles war von solch unbewußter Schönheit,
daß ich ihn mit Entzücken ansehen mußte. Um die eine Hand hatte er ein Seil
gewunden, um seine Ziege nicht loszulassen, und diese zerrte nun heftig an ihm
und stieg an der Böschung herauf, um Brombeerranlen zu sich herunterzureißen.
Ich war so dankbar, daß ich diesen Anblick hatte haben dürfen, daß ich im Weiter¬
wandern wiederholt die Bitte in meinem Herzen bewegte: Gott segne meine Augen.
Was ohne Worte mein Herz heftig ergriff, war die Sehnsucht, daß mir nichts
Schönes, keine Herrlichkeit des wirklichen Lebens entgehen möge, um der meine
Straße je vorüberführe.

Und über diesen Gedanken ward meine Seele einer leidenschaftlichen Liebe zu
dem seither aus philosophischen Gründen so übersehenen Einzelnen inne, daß ich
erkannte: für mich war nach meiner innersten Natur nur das Einzelne wirklich
und schön und liebenswert --

-- und mit dem Kornfeld war es aus --

Viktor beachtete diese Unterbrechung nicht und fuhr fort: ja ich erkannte die
tiefe, unbarmherzige Fühllosigkeit jener Lehre gegenüber dein so wertvollen und so
einzigartigen Geschicke des Menschen. Es war mir länger nicht mehr möglich, zu
thun, als ob der Mensch nur so eine arme Welle wäre, die sich ohnmächtig aus
dem Meere des Seins erhebt, sie weiß nicht wie, und sich in ihm verlierend wieder
auslöst, daß niemand ihren Ort je wieder erkennt. Und wie mir nnn der un¬
beschreibliche Wert des einzelnen Menschen, jedes einzelnen Menschen, die Kraft
seiner Gefühle oder der Jammer seiner Sünde als Wirksamkeiten, deren Spur in
Ewigkeit nicht mehr auszulöschen ist, wieder aufging, da ward ich in dieser neuen
Liebe -- nenne es, mein Ernst, mit mir, ohne zu lächeln --, in dieser Mutterliebe zu
den Menschen der Anwesenheit des lebendigen Gottes so inne, daß ich in dem




Mdaskinder
Hermann Geser von (Fortsetzung)

ut nun kommt der Junge mit der Ziege, befahl Ernst.

Ja, nun kommt er! Ich ging als Student einmal allein das
Böstenbachthnl hinauf. Oben, wo es sich ganz verengt — du erinnerst
dich, wo das Bauernhaus am Bache steht, und die Straße so am
Dache herführt, daß das Heu mit dem Karren unmittelbar vom
Wege auf den Heuboden gefahren werden kann —, war ein Quell,
der dem Hofe gegenüber-aus der felsigen, mit Ephen reichlich bezognen Straßen-
böschnng hervorbrach. Er siel ganz krystallklnr durch eine hölzerne Rinne in einen
steinernen Brunnentrog. An dem Troge stand ein Knabe, um zu schöpfen.
Als er meine Schritte hörte, sah er mir entgegen und stand leicht an die
steinerne Kufe gelehnt wie ein vollkommnes Bild. Das schwarze Haar lag un¬
geordnet und doch voll Anmut über der wohlgeformten Stirn, und aus dein
hübschen, gebräunten Gesicht brach ein offner, fast blitzender Blick. Die Haltung
des Körpers, die Stellung der Füße, alles war von solch unbewußter Schönheit,
daß ich ihn mit Entzücken ansehen mußte. Um die eine Hand hatte er ein Seil
gewunden, um seine Ziege nicht loszulassen, und diese zerrte nun heftig an ihm
und stieg an der Böschung herauf, um Brombeerranlen zu sich herunterzureißen.
Ich war so dankbar, daß ich diesen Anblick hatte haben dürfen, daß ich im Weiter¬
wandern wiederholt die Bitte in meinem Herzen bewegte: Gott segne meine Augen.
Was ohne Worte mein Herz heftig ergriff, war die Sehnsucht, daß mir nichts
Schönes, keine Herrlichkeit des wirklichen Lebens entgehen möge, um der meine
Straße je vorüberführe.

Und über diesen Gedanken ward meine Seele einer leidenschaftlichen Liebe zu
dem seither aus philosophischen Gründen so übersehenen Einzelnen inne, daß ich
erkannte: für mich war nach meiner innersten Natur nur das Einzelne wirklich
und schön und liebenswert —

— und mit dem Kornfeld war es aus —

Viktor beachtete diese Unterbrechung nicht und fuhr fort: ja ich erkannte die
tiefe, unbarmherzige Fühllosigkeit jener Lehre gegenüber dein so wertvollen und so
einzigartigen Geschicke des Menschen. Es war mir länger nicht mehr möglich, zu
thun, als ob der Mensch nur so eine arme Welle wäre, die sich ohnmächtig aus
dem Meere des Seins erhebt, sie weiß nicht wie, und sich in ihm verlierend wieder
auslöst, daß niemand ihren Ort je wieder erkennt. Und wie mir nnn der un¬
beschreibliche Wert des einzelnen Menschen, jedes einzelnen Menschen, die Kraft
seiner Gefühle oder der Jammer seiner Sünde als Wirksamkeiten, deren Spur in
Ewigkeit nicht mehr auszulöschen ist, wieder aufging, da ward ich in dieser neuen
Liebe — nenne es, mein Ernst, mit mir, ohne zu lächeln —, in dieser Mutterliebe zu
den Menschen der Anwesenheit des lebendigen Gottes so inne, daß ich in dem


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[0250] [Abbildung] Mdaskinder Hermann Geser von (Fortsetzung) ut nun kommt der Junge mit der Ziege, befahl Ernst. Ja, nun kommt er! Ich ging als Student einmal allein das Böstenbachthnl hinauf. Oben, wo es sich ganz verengt — du erinnerst dich, wo das Bauernhaus am Bache steht, und die Straße so am Dache herführt, daß das Heu mit dem Karren unmittelbar vom Wege auf den Heuboden gefahren werden kann —, war ein Quell, der dem Hofe gegenüber-aus der felsigen, mit Ephen reichlich bezognen Straßen- böschnng hervorbrach. Er siel ganz krystallklnr durch eine hölzerne Rinne in einen steinernen Brunnentrog. An dem Troge stand ein Knabe, um zu schöpfen. Als er meine Schritte hörte, sah er mir entgegen und stand leicht an die steinerne Kufe gelehnt wie ein vollkommnes Bild. Das schwarze Haar lag un¬ geordnet und doch voll Anmut über der wohlgeformten Stirn, und aus dein hübschen, gebräunten Gesicht brach ein offner, fast blitzender Blick. Die Haltung des Körpers, die Stellung der Füße, alles war von solch unbewußter Schönheit, daß ich ihn mit Entzücken ansehen mußte. Um die eine Hand hatte er ein Seil gewunden, um seine Ziege nicht loszulassen, und diese zerrte nun heftig an ihm und stieg an der Böschung herauf, um Brombeerranlen zu sich herunterzureißen. Ich war so dankbar, daß ich diesen Anblick hatte haben dürfen, daß ich im Weiter¬ wandern wiederholt die Bitte in meinem Herzen bewegte: Gott segne meine Augen. Was ohne Worte mein Herz heftig ergriff, war die Sehnsucht, daß mir nichts Schönes, keine Herrlichkeit des wirklichen Lebens entgehen möge, um der meine Straße je vorüberführe. Und über diesen Gedanken ward meine Seele einer leidenschaftlichen Liebe zu dem seither aus philosophischen Gründen so übersehenen Einzelnen inne, daß ich erkannte: für mich war nach meiner innersten Natur nur das Einzelne wirklich und schön und liebenswert — — und mit dem Kornfeld war es aus — Viktor beachtete diese Unterbrechung nicht und fuhr fort: ja ich erkannte die tiefe, unbarmherzige Fühllosigkeit jener Lehre gegenüber dein so wertvollen und so einzigartigen Geschicke des Menschen. Es war mir länger nicht mehr möglich, zu thun, als ob der Mensch nur so eine arme Welle wäre, die sich ohnmächtig aus dem Meere des Seins erhebt, sie weiß nicht wie, und sich in ihm verlierend wieder auslöst, daß niemand ihren Ort je wieder erkennt. Und wie mir nnn der un¬ beschreibliche Wert des einzelnen Menschen, jedes einzelnen Menschen, die Kraft seiner Gefühle oder der Jammer seiner Sünde als Wirksamkeiten, deren Spur in Ewigkeit nicht mehr auszulöschen ist, wieder aufging, da ward ich in dieser neuen Liebe — nenne es, mein Ernst, mit mir, ohne zu lächeln —, in dieser Mutterliebe zu den Menschen der Anwesenheit des lebendigen Gottes so inne, daß ich in dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/250>, abgerufen am 06.05.2024.