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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die ostdeutsche Landwirtschaft

b Deutschland ein Industrieland sei, ob es auf dem Wege sei.
ein Industrieland zu werden, und ob die Entwicklung erwünscht
sei. oder ob von alledem das Gegenteil der Fall sei, darüber
ist in den letzten Jahren oft gestritten worden, ohne daß die
Sache wesentlich klarer geworden wäre. Die Frage kann aber
in dieser Form gar nicht beantwortet werden; das deutsche Reich besteht aus
zwei Teilen, die in dieser Beziehung völlig entgegengesetzte Verhältnisse zeigen,
die fast so verschieden von einander sind wie Belgien und Polen. Der Westen,
das alte Deutschland, ist Industrieland, der Osten, das Kolonialland, ist Agrar¬
land; im Westen bringt die Industrie das Geld ins Land, im Osten die Land¬
wirtschaft. Dementsprechend sehen wir im Westen ein Überwiegen der Städte,
des Bürgertums; dies ist dort der eigentliche Kulturträger, während sich die
Landwirtschaft den städtischen und gewerblichen Verhältnissen anpaßt, und ihr
Gedeihen von dieser Anpassung abhängt. Fast dreimal so viel Getreide auf
den Kopf der Bevölkerung wird dagegen im Osten gebaut, und abgesehen von
einigen Hauptstädten und den großen Seeplätzen ist das Gewerbe und das Gro߬
bürgertum hier nur gering entwickelt. Den Höhe- und Mittelpunkt der Kultur
bildet hier das Rittergut; um die Rittergutsbesitzer schließt sich das Beamten¬
tum und das Offizierkorps der Landstädte an; alle drei zusammen bilden die
oberste soziale Schicht. Stadt und Land stehen viel weniger in wirtschaftlicher
Wechselwirkung, als im Westen: der Rittergutsbesitzer bezieht seine Bedürfnisse
meist aus der fernen Großstadt und verkauft auch lieber im großen.

Dieser Gegensatz des Ostens und des Westens findet seine Erklärung in
der Geschichte des Landes. Der Osten ist ein dem Slawentum abgerungnes
Kolonialland. Während die staufischen Kaiser und ihre Nachfolger ihre Kräfte in
Hausmacht- und Universalpolitik erschöpften, ging ein mächtiger Strom deutscher


Grenzboten II 1897 45


Die ostdeutsche Landwirtschaft

b Deutschland ein Industrieland sei, ob es auf dem Wege sei.
ein Industrieland zu werden, und ob die Entwicklung erwünscht
sei. oder ob von alledem das Gegenteil der Fall sei, darüber
ist in den letzten Jahren oft gestritten worden, ohne daß die
Sache wesentlich klarer geworden wäre. Die Frage kann aber
in dieser Form gar nicht beantwortet werden; das deutsche Reich besteht aus
zwei Teilen, die in dieser Beziehung völlig entgegengesetzte Verhältnisse zeigen,
die fast so verschieden von einander sind wie Belgien und Polen. Der Westen,
das alte Deutschland, ist Industrieland, der Osten, das Kolonialland, ist Agrar¬
land; im Westen bringt die Industrie das Geld ins Land, im Osten die Land¬
wirtschaft. Dementsprechend sehen wir im Westen ein Überwiegen der Städte,
des Bürgertums; dies ist dort der eigentliche Kulturträger, während sich die
Landwirtschaft den städtischen und gewerblichen Verhältnissen anpaßt, und ihr
Gedeihen von dieser Anpassung abhängt. Fast dreimal so viel Getreide auf
den Kopf der Bevölkerung wird dagegen im Osten gebaut, und abgesehen von
einigen Hauptstädten und den großen Seeplätzen ist das Gewerbe und das Gro߬
bürgertum hier nur gering entwickelt. Den Höhe- und Mittelpunkt der Kultur
bildet hier das Rittergut; um die Rittergutsbesitzer schließt sich das Beamten¬
tum und das Offizierkorps der Landstädte an; alle drei zusammen bilden die
oberste soziale Schicht. Stadt und Land stehen viel weniger in wirtschaftlicher
Wechselwirkung, als im Westen: der Rittergutsbesitzer bezieht seine Bedürfnisse
meist aus der fernen Großstadt und verkauft auch lieber im großen.

Dieser Gegensatz des Ostens und des Westens findet seine Erklärung in
der Geschichte des Landes. Der Osten ist ein dem Slawentum abgerungnes
Kolonialland. Während die staufischen Kaiser und ihre Nachfolger ihre Kräfte in
Hausmacht- und Universalpolitik erschöpften, ging ein mächtiger Strom deutscher


Grenzboten II 1897 45
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[0361] [Abbildung] Die ostdeutsche Landwirtschaft b Deutschland ein Industrieland sei, ob es auf dem Wege sei. ein Industrieland zu werden, und ob die Entwicklung erwünscht sei. oder ob von alledem das Gegenteil der Fall sei, darüber ist in den letzten Jahren oft gestritten worden, ohne daß die Sache wesentlich klarer geworden wäre. Die Frage kann aber in dieser Form gar nicht beantwortet werden; das deutsche Reich besteht aus zwei Teilen, die in dieser Beziehung völlig entgegengesetzte Verhältnisse zeigen, die fast so verschieden von einander sind wie Belgien und Polen. Der Westen, das alte Deutschland, ist Industrieland, der Osten, das Kolonialland, ist Agrar¬ land; im Westen bringt die Industrie das Geld ins Land, im Osten die Land¬ wirtschaft. Dementsprechend sehen wir im Westen ein Überwiegen der Städte, des Bürgertums; dies ist dort der eigentliche Kulturträger, während sich die Landwirtschaft den städtischen und gewerblichen Verhältnissen anpaßt, und ihr Gedeihen von dieser Anpassung abhängt. Fast dreimal so viel Getreide auf den Kopf der Bevölkerung wird dagegen im Osten gebaut, und abgesehen von einigen Hauptstädten und den großen Seeplätzen ist das Gewerbe und das Gro߬ bürgertum hier nur gering entwickelt. Den Höhe- und Mittelpunkt der Kultur bildet hier das Rittergut; um die Rittergutsbesitzer schließt sich das Beamten¬ tum und das Offizierkorps der Landstädte an; alle drei zusammen bilden die oberste soziale Schicht. Stadt und Land stehen viel weniger in wirtschaftlicher Wechselwirkung, als im Westen: der Rittergutsbesitzer bezieht seine Bedürfnisse meist aus der fernen Großstadt und verkauft auch lieber im großen. Dieser Gegensatz des Ostens und des Westens findet seine Erklärung in der Geschichte des Landes. Der Osten ist ein dem Slawentum abgerungnes Kolonialland. Während die staufischen Kaiser und ihre Nachfolger ihre Kräfte in Hausmacht- und Universalpolitik erschöpften, ging ein mächtiger Strom deutscher Grenzboten II 1897 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/361>, abgerufen am 06.05.2024.