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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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München und Konstanz

Amerika und auch anderwärts zur Praxis geworden ist, wird, so Gott will,
niemals in unser neues deutsches Staatsleben übergehen. Gegenseitige Pflicht¬
erfüllung und tiefere Einsicht für den Zusammenhang der eignen Interessen
mit dem Gedeihen der Gesamtheit, das ist es, worauf es ankommt. Wer
dem Ganzen am besten dient, der ist der Herrschaft am würdigsten. Verdienst
giebt Macht!

Was soll das ewige Jammern über das viele Geld, das die Machtstellung
des deutschen Volkes kostet? Wer Hütte nicht ein Gefühl der Beschämung em¬
pfunden bei der Behandlung, die die Flottensrage im deutschen und -- im fran¬
zösischen Parlament erfahren hat! Versagt sich das deutsche Bürgertum dem
staatlichen Verständnis, so muß sich die Regierung an die stacitsklügern und
darum wichtigern Parteien halten, dann ist aber eine Lösung der ostdeutschen
landwirtschaftlichen Fragen ebenso wie die vieler andrer Fragen, wie sie den
sozialen und nationalen Interessen am meisten entsprechen würde, ausgeschlossen.




München und Konstanz
(Schluß)

-AMfarrer Hosemann war ein kleiner dicker Mann mit einem un¬
gemein freundlichen Gesicht. Diese Freundlichkeit war keine
Maske, sondern der Spiegel einer ungewöhnlichen Herzensgüte.
Mit kindlicher Einfalt verband er ein bedeutendes Wissen. Er
war eine Zeit lang Gymnasialprofessor und dann Pfarrer in
Tuntenhausen (Baiern) gewesen. Er hatte sich aber dort uicht so lange halten
können wie Ncnftle und war ein paar Jahre früher als dieser nach Baden
übergesiedelt. Als ich am 1. Oktober 1878 in Konstanz ankam, fand ich ihn
in einem sehr betrübenden Zustande. Seine Krankheit war Gehirnerweichung,
und ich hatte nun zum zweitenmale Gelegenheit, den Verfall oder die Lahm¬
legung des Geistes durch den Verfall seines Organs an meinem Pfarrer zu
studiren. Doch war er körperlich noch ziemlich rüstig, was Schwenderling in
Liegnitz beim Beginn seiner Gehirnkrankheit nicht mehr gewesen war. Die ersten
beiden Monate aß ich mit ihm zu Mittag. Anfangs fragte er regelmäßig
-- er sprach sehr langsam, singend, jedes Wort sorgfältig nach seinem gram¬
matischen Werte betonend --: Wo kommen Sie her? wo reisen Sie hin? wie
lange gedenken Sie hierzu bleiben? Worauf die Antwort sehr schwierig war.


München und Konstanz

Amerika und auch anderwärts zur Praxis geworden ist, wird, so Gott will,
niemals in unser neues deutsches Staatsleben übergehen. Gegenseitige Pflicht¬
erfüllung und tiefere Einsicht für den Zusammenhang der eignen Interessen
mit dem Gedeihen der Gesamtheit, das ist es, worauf es ankommt. Wer
dem Ganzen am besten dient, der ist der Herrschaft am würdigsten. Verdienst
giebt Macht!

Was soll das ewige Jammern über das viele Geld, das die Machtstellung
des deutschen Volkes kostet? Wer Hütte nicht ein Gefühl der Beschämung em¬
pfunden bei der Behandlung, die die Flottensrage im deutschen und — im fran¬
zösischen Parlament erfahren hat! Versagt sich das deutsche Bürgertum dem
staatlichen Verständnis, so muß sich die Regierung an die stacitsklügern und
darum wichtigern Parteien halten, dann ist aber eine Lösung der ostdeutschen
landwirtschaftlichen Fragen ebenso wie die vieler andrer Fragen, wie sie den
sozialen und nationalen Interessen am meisten entsprechen würde, ausgeschlossen.




München und Konstanz
(Schluß)

-AMfarrer Hosemann war ein kleiner dicker Mann mit einem un¬
gemein freundlichen Gesicht. Diese Freundlichkeit war keine
Maske, sondern der Spiegel einer ungewöhnlichen Herzensgüte.
Mit kindlicher Einfalt verband er ein bedeutendes Wissen. Er
war eine Zeit lang Gymnasialprofessor und dann Pfarrer in
Tuntenhausen (Baiern) gewesen. Er hatte sich aber dort uicht so lange halten
können wie Ncnftle und war ein paar Jahre früher als dieser nach Baden
übergesiedelt. Als ich am 1. Oktober 1878 in Konstanz ankam, fand ich ihn
in einem sehr betrübenden Zustande. Seine Krankheit war Gehirnerweichung,
und ich hatte nun zum zweitenmale Gelegenheit, den Verfall oder die Lahm¬
legung des Geistes durch den Verfall seines Organs an meinem Pfarrer zu
studiren. Doch war er körperlich noch ziemlich rüstig, was Schwenderling in
Liegnitz beim Beginn seiner Gehirnkrankheit nicht mehr gewesen war. Die ersten
beiden Monate aß ich mit ihm zu Mittag. Anfangs fragte er regelmäßig
— er sprach sehr langsam, singend, jedes Wort sorgfältig nach seinem gram¬
matischen Werte betonend —: Wo kommen Sie her? wo reisen Sie hin? wie
lange gedenken Sie hierzu bleiben? Worauf die Antwort sehr schwierig war.


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[0432] München und Konstanz Amerika und auch anderwärts zur Praxis geworden ist, wird, so Gott will, niemals in unser neues deutsches Staatsleben übergehen. Gegenseitige Pflicht¬ erfüllung und tiefere Einsicht für den Zusammenhang der eignen Interessen mit dem Gedeihen der Gesamtheit, das ist es, worauf es ankommt. Wer dem Ganzen am besten dient, der ist der Herrschaft am würdigsten. Verdienst giebt Macht! Was soll das ewige Jammern über das viele Geld, das die Machtstellung des deutschen Volkes kostet? Wer Hütte nicht ein Gefühl der Beschämung em¬ pfunden bei der Behandlung, die die Flottensrage im deutschen und — im fran¬ zösischen Parlament erfahren hat! Versagt sich das deutsche Bürgertum dem staatlichen Verständnis, so muß sich die Regierung an die stacitsklügern und darum wichtigern Parteien halten, dann ist aber eine Lösung der ostdeutschen landwirtschaftlichen Fragen ebenso wie die vieler andrer Fragen, wie sie den sozialen und nationalen Interessen am meisten entsprechen würde, ausgeschlossen. München und Konstanz (Schluß) -AMfarrer Hosemann war ein kleiner dicker Mann mit einem un¬ gemein freundlichen Gesicht. Diese Freundlichkeit war keine Maske, sondern der Spiegel einer ungewöhnlichen Herzensgüte. Mit kindlicher Einfalt verband er ein bedeutendes Wissen. Er war eine Zeit lang Gymnasialprofessor und dann Pfarrer in Tuntenhausen (Baiern) gewesen. Er hatte sich aber dort uicht so lange halten können wie Ncnftle und war ein paar Jahre früher als dieser nach Baden übergesiedelt. Als ich am 1. Oktober 1878 in Konstanz ankam, fand ich ihn in einem sehr betrübenden Zustande. Seine Krankheit war Gehirnerweichung, und ich hatte nun zum zweitenmale Gelegenheit, den Verfall oder die Lahm¬ legung des Geistes durch den Verfall seines Organs an meinem Pfarrer zu studiren. Doch war er körperlich noch ziemlich rüstig, was Schwenderling in Liegnitz beim Beginn seiner Gehirnkrankheit nicht mehr gewesen war. Die ersten beiden Monate aß ich mit ihm zu Mittag. Anfangs fragte er regelmäßig — er sprach sehr langsam, singend, jedes Wort sorgfältig nach seinem gram¬ matischen Werte betonend —: Wo kommen Sie her? wo reisen Sie hin? wie lange gedenken Sie hierzu bleiben? Worauf die Antwort sehr schwierig war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/432>, abgerufen am 06.05.2024.