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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wenn ein Föderativstaat Österreich wieder in jene Königreiche und Länder zerlegt
werden sollte, die seit Maria Theresia einen Staat, seit Franz II. ein Kaisertum
gebildet haben und vorläufig eine Monarchie vorzustellen haben.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zur Frage des Vereins- und Versammlungsrechts in Preußen.

Wenn wir bei dem gegenwärtigen Staude der Sache auf diese Frage kurz zurück¬
kommen, so geschieht es nicht deshalb, weil wir dem Schicksal des Gesetzentwurfs
an sich eine hohe praktische Bedeutung beilegten. Der ganze Handel interessirt
uns nur als Symptom der politischen Lage, und das in wenig erbaulicher Weise.
Der Wortlaut des Entwurfs giebt uns selbst bei der gewissenhaftesten Kritik jedes
Satzes keinen Grund zur "Entrüstung." Er verlangt, abgesehen von der Aufhebung
des gewohnheitsmäßig schon außer Dienst gestellten Verbindungsverbots und einer
redaktionellen Korrektur der überaus mangelhaft gefaßten Verordnung vom 11. März
1850, fast nichts mehr, als was die Preußische Staatsverwaltung von jeher als
unerläßliches Recht, als unentbehrliche Vollmacht zur Erfüllung der ihr obliegenden
Aufgaben beansprucht hat, und er bleibt vor allen Dingen in den als Verschärfung
anzusehenden neuen Bestimmungen hinter den in den meisten übrigen deutschen
Staaten geltenden Vereins- und versammlnngsrechtlichen Vorschriften zurück, und
zwar zum Teil weit zurück. Mit Recht hat der Reichskanzler gerade auf den
letzten Punkt in seiner Erklärung um ersten Verhandlungstage mit großem Nach¬
druck hingewiesen, aber das hält natürlich die cntrüstungsbedürftige Agitation nicht
ab, von einer bisher unerhörten Vergewaltigung der staatsbürgerlichen Freiheit zu
lärmen, die Vorlage als eine Vereinigung von Sozialistengesetz und Umsturzgesctz
zu bezeichnen, die die schlimmsten Erwartungen übertreffe, obgleich sich die ent¬
rüsteten Herren doch ans jedem der zahlreich genug vorhnndncn Handbücher des
deutschen und preußischem Staats- und Verwaltungsrechts überzeugt haben müssen,
daß es so steht, wie der Reichskanzler gesagt hat. Die Vorlage ist sicher keine
gesetzgeberisch gute Leistung, wir halten sie -- auch abgesehen davon, daß zur Zeit
ein Teil der Verschärfungen entbehrlich ist -- in Einzelheiten für herzlich schlecht,
für schlechter als manches andre Vereinsgesetz in Deutschland, aber nach dem heutigen
Stande des deutschen Vereins- und Versammlungsrechts ihren Inhalt zum Gegenstand
einer Entrüstuugskampagne zu machen, das ist einfach Schwindel. Eine besonders
unschöne Blüte treibt dieser Schwindel in den Angriffen, die die mit allen Mittel"
um die Gunst der ungebildeten Massen buhlende Parteipresse -- leider nicht nur die
sozinldemokratische -- gegen die Person des Reichskanzlers unter Ausbeutung seiner
bekannten Erklärung vom 27. Juni 1896 richtet. Man muß es tief bedauern, wenn
es Männer wie der Pfarrer Naumann über ihr Gewissen bringen, es als Ergebnis
der Verhandlungen über die Vorlage in alle Welt hinauszuposaunen, daß das
moralische Ansehe" des Reichskanzlers so schwer geschädigt sei, daß er sich nicht wieder
erholen werde. Die Erklärung des Reichskanzlers vom 27. Juni 1896 enthielt auch


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wenn ein Föderativstaat Österreich wieder in jene Königreiche und Länder zerlegt
werden sollte, die seit Maria Theresia einen Staat, seit Franz II. ein Kaisertum
gebildet haben und vorläufig eine Monarchie vorzustellen haben.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zur Frage des Vereins- und Versammlungsrechts in Preußen.

Wenn wir bei dem gegenwärtigen Staude der Sache auf diese Frage kurz zurück¬
kommen, so geschieht es nicht deshalb, weil wir dem Schicksal des Gesetzentwurfs
an sich eine hohe praktische Bedeutung beilegten. Der ganze Handel interessirt
uns nur als Symptom der politischen Lage, und das in wenig erbaulicher Weise.
Der Wortlaut des Entwurfs giebt uns selbst bei der gewissenhaftesten Kritik jedes
Satzes keinen Grund zur „Entrüstung." Er verlangt, abgesehen von der Aufhebung
des gewohnheitsmäßig schon außer Dienst gestellten Verbindungsverbots und einer
redaktionellen Korrektur der überaus mangelhaft gefaßten Verordnung vom 11. März
1850, fast nichts mehr, als was die Preußische Staatsverwaltung von jeher als
unerläßliches Recht, als unentbehrliche Vollmacht zur Erfüllung der ihr obliegenden
Aufgaben beansprucht hat, und er bleibt vor allen Dingen in den als Verschärfung
anzusehenden neuen Bestimmungen hinter den in den meisten übrigen deutschen
Staaten geltenden Vereins- und versammlnngsrechtlichen Vorschriften zurück, und
zwar zum Teil weit zurück. Mit Recht hat der Reichskanzler gerade auf den
letzten Punkt in seiner Erklärung um ersten Verhandlungstage mit großem Nach¬
druck hingewiesen, aber das hält natürlich die cntrüstungsbedürftige Agitation nicht
ab, von einer bisher unerhörten Vergewaltigung der staatsbürgerlichen Freiheit zu
lärmen, die Vorlage als eine Vereinigung von Sozialistengesetz und Umsturzgesctz
zu bezeichnen, die die schlimmsten Erwartungen übertreffe, obgleich sich die ent¬
rüsteten Herren doch ans jedem der zahlreich genug vorhnndncn Handbücher des
deutschen und preußischem Staats- und Verwaltungsrechts überzeugt haben müssen,
daß es so steht, wie der Reichskanzler gesagt hat. Die Vorlage ist sicher keine
gesetzgeberisch gute Leistung, wir halten sie — auch abgesehen davon, daß zur Zeit
ein Teil der Verschärfungen entbehrlich ist — in Einzelheiten für herzlich schlecht,
für schlechter als manches andre Vereinsgesetz in Deutschland, aber nach dem heutigen
Stande des deutschen Vereins- und Versammlungsrechts ihren Inhalt zum Gegenstand
einer Entrüstuugskampagne zu machen, das ist einfach Schwindel. Eine besonders
unschöne Blüte treibt dieser Schwindel in den Angriffen, die die mit allen Mittel»
um die Gunst der ungebildeten Massen buhlende Parteipresse — leider nicht nur die
sozinldemokratische — gegen die Person des Reichskanzlers unter Ausbeutung seiner
bekannten Erklärung vom 27. Juni 1896 richtet. Man muß es tief bedauern, wenn
es Männer wie der Pfarrer Naumann über ihr Gewissen bringen, es als Ergebnis
der Verhandlungen über die Vorlage in alle Welt hinauszuposaunen, daß das
moralische Ansehe« des Reichskanzlers so schwer geschädigt sei, daß er sich nicht wieder
erholen werde. Die Erklärung des Reichskanzlers vom 27. Juni 1896 enthielt auch


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[0544] Maßgebliches und Unmaßgebliches Wenn ein Föderativstaat Österreich wieder in jene Königreiche und Länder zerlegt werden sollte, die seit Maria Theresia einen Staat, seit Franz II. ein Kaisertum gebildet haben und vorläufig eine Monarchie vorzustellen haben. Maßgebliches und Unmaßgebliches Zur Frage des Vereins- und Versammlungsrechts in Preußen. Wenn wir bei dem gegenwärtigen Staude der Sache auf diese Frage kurz zurück¬ kommen, so geschieht es nicht deshalb, weil wir dem Schicksal des Gesetzentwurfs an sich eine hohe praktische Bedeutung beilegten. Der ganze Handel interessirt uns nur als Symptom der politischen Lage, und das in wenig erbaulicher Weise. Der Wortlaut des Entwurfs giebt uns selbst bei der gewissenhaftesten Kritik jedes Satzes keinen Grund zur „Entrüstung." Er verlangt, abgesehen von der Aufhebung des gewohnheitsmäßig schon außer Dienst gestellten Verbindungsverbots und einer redaktionellen Korrektur der überaus mangelhaft gefaßten Verordnung vom 11. März 1850, fast nichts mehr, als was die Preußische Staatsverwaltung von jeher als unerläßliches Recht, als unentbehrliche Vollmacht zur Erfüllung der ihr obliegenden Aufgaben beansprucht hat, und er bleibt vor allen Dingen in den als Verschärfung anzusehenden neuen Bestimmungen hinter den in den meisten übrigen deutschen Staaten geltenden Vereins- und versammlnngsrechtlichen Vorschriften zurück, und zwar zum Teil weit zurück. Mit Recht hat der Reichskanzler gerade auf den letzten Punkt in seiner Erklärung um ersten Verhandlungstage mit großem Nach¬ druck hingewiesen, aber das hält natürlich die cntrüstungsbedürftige Agitation nicht ab, von einer bisher unerhörten Vergewaltigung der staatsbürgerlichen Freiheit zu lärmen, die Vorlage als eine Vereinigung von Sozialistengesetz und Umsturzgesctz zu bezeichnen, die die schlimmsten Erwartungen übertreffe, obgleich sich die ent¬ rüsteten Herren doch ans jedem der zahlreich genug vorhnndncn Handbücher des deutschen und preußischem Staats- und Verwaltungsrechts überzeugt haben müssen, daß es so steht, wie der Reichskanzler gesagt hat. Die Vorlage ist sicher keine gesetzgeberisch gute Leistung, wir halten sie — auch abgesehen davon, daß zur Zeit ein Teil der Verschärfungen entbehrlich ist — in Einzelheiten für herzlich schlecht, für schlechter als manches andre Vereinsgesetz in Deutschland, aber nach dem heutigen Stande des deutschen Vereins- und Versammlungsrechts ihren Inhalt zum Gegenstand einer Entrüstuugskampagne zu machen, das ist einfach Schwindel. Eine besonders unschöne Blüte treibt dieser Schwindel in den Angriffen, die die mit allen Mittel» um die Gunst der ungebildeten Massen buhlende Parteipresse — leider nicht nur die sozinldemokratische — gegen die Person des Reichskanzlers unter Ausbeutung seiner bekannten Erklärung vom 27. Juni 1896 richtet. Man muß es tief bedauern, wenn es Männer wie der Pfarrer Naumann über ihr Gewissen bringen, es als Ergebnis der Verhandlungen über die Vorlage in alle Welt hinauszuposaunen, daß das moralische Ansehe« des Reichskanzlers so schwer geschädigt sei, daß er sich nicht wieder erholen werde. Die Erklärung des Reichskanzlers vom 27. Juni 1896 enthielt auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/544>, abgerufen am 06.05.2024.