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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Schwund des Ehrgefühls'')

cum man zehn Menschen fragte, was sie unter ihrer Ehre ver¬
stehen, und ganz besonders wenn man eine Erklärung verlangte
ans die Frage: "Was ist deine Ehre?" so würde man von fünfen
der Gefragten nur ein Achselzucken und von dein Rest höchst
geschraubte Erklärungen bekommen. Mich dünkt, die ersten fünf
geben die allein richtige Antwort, deren stumme Drastik sich etwa in Fausts
Worten wiederfindet: "Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen."

Über nichts in der Welt entscheidet jeder Einzelne so rasch, so sicher, so
ohne jede Reflexion wie darüber, wodurch er sich in seiner Ehre verletzt
fühlt. Das Ehrgefühl ist der feine, klare, zarte Krystall, der sich aus der
chemischen Mischung unsers Temperaments mit unsrer Lebens-, Welt- und
Meuschenanschauung bildet, und hieraus geht hervor, daß, je feiner und klarer
jene Mischung war, desto wertvoller der Krystall wird, und umgekehrt. So
viel Personen, so viel Ehrbegriffe; sie sind ein Produkt der Erziehung, des
Volkscharakters und der äußern Lebenslage, sowie des Alters, des Geschlechts
und der Vererbung; sie sind so rein persönlich, so individuell, daß mau streng
genommen theoretisch nicht einmal das Recht hat, irgend jemand vorzuhalten,
er habe falsches Ehrgefühl oder übertriebnes oder zu wenig. Jeder hat das
Ehrgefühl, das er verdient. Das Ehrgefühl des Jünglings ist ein andres
als das des gereiften Mannes, das der Frauen unterscheidet sich scharf von
dem des starkem Geschlechts. Es giebt Menschen, die ein verächtlicher Blick
in den Harnisch bringt, und andre, bei denen eine Ohrfeige ohne Zeugen
wenigstens keine innern Spuren hinterläßt. Es giebt Menschen, deren Ehre



") Wir haben wiederholt Aufsätze gebracht, die sich gerade in dem entgegengesetzten Sinne
D, N, aussprachen, geben aber gern auch dieser Stimme Raum.
Grenzboten II 1897 75 ,


Der Schwund des Ehrgefühls'')

cum man zehn Menschen fragte, was sie unter ihrer Ehre ver¬
stehen, und ganz besonders wenn man eine Erklärung verlangte
ans die Frage: „Was ist deine Ehre?" so würde man von fünfen
der Gefragten nur ein Achselzucken und von dein Rest höchst
geschraubte Erklärungen bekommen. Mich dünkt, die ersten fünf
geben die allein richtige Antwort, deren stumme Drastik sich etwa in Fausts
Worten wiederfindet: „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen."

Über nichts in der Welt entscheidet jeder Einzelne so rasch, so sicher, so
ohne jede Reflexion wie darüber, wodurch er sich in seiner Ehre verletzt
fühlt. Das Ehrgefühl ist der feine, klare, zarte Krystall, der sich aus der
chemischen Mischung unsers Temperaments mit unsrer Lebens-, Welt- und
Meuschenanschauung bildet, und hieraus geht hervor, daß, je feiner und klarer
jene Mischung war, desto wertvoller der Krystall wird, und umgekehrt. So
viel Personen, so viel Ehrbegriffe; sie sind ein Produkt der Erziehung, des
Volkscharakters und der äußern Lebenslage, sowie des Alters, des Geschlechts
und der Vererbung; sie sind so rein persönlich, so individuell, daß mau streng
genommen theoretisch nicht einmal das Recht hat, irgend jemand vorzuhalten,
er habe falsches Ehrgefühl oder übertriebnes oder zu wenig. Jeder hat das
Ehrgefühl, das er verdient. Das Ehrgefühl des Jünglings ist ein andres
als das des gereiften Mannes, das der Frauen unterscheidet sich scharf von
dem des starkem Geschlechts. Es giebt Menschen, die ein verächtlicher Blick
in den Harnisch bringt, und andre, bei denen eine Ohrfeige ohne Zeugen
wenigstens keine innern Spuren hinterläßt. Es giebt Menschen, deren Ehre



") Wir haben wiederholt Aufsätze gebracht, die sich gerade in dem entgegengesetzten Sinne
D, N, aussprachen, geben aber gern auch dieser Stimme Raum.
Grenzboten II 1897 75 ,
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[0601] [Abbildung] Der Schwund des Ehrgefühls'') cum man zehn Menschen fragte, was sie unter ihrer Ehre ver¬ stehen, und ganz besonders wenn man eine Erklärung verlangte ans die Frage: „Was ist deine Ehre?" so würde man von fünfen der Gefragten nur ein Achselzucken und von dein Rest höchst geschraubte Erklärungen bekommen. Mich dünkt, die ersten fünf geben die allein richtige Antwort, deren stumme Drastik sich etwa in Fausts Worten wiederfindet: „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen." Über nichts in der Welt entscheidet jeder Einzelne so rasch, so sicher, so ohne jede Reflexion wie darüber, wodurch er sich in seiner Ehre verletzt fühlt. Das Ehrgefühl ist der feine, klare, zarte Krystall, der sich aus der chemischen Mischung unsers Temperaments mit unsrer Lebens-, Welt- und Meuschenanschauung bildet, und hieraus geht hervor, daß, je feiner und klarer jene Mischung war, desto wertvoller der Krystall wird, und umgekehrt. So viel Personen, so viel Ehrbegriffe; sie sind ein Produkt der Erziehung, des Volkscharakters und der äußern Lebenslage, sowie des Alters, des Geschlechts und der Vererbung; sie sind so rein persönlich, so individuell, daß mau streng genommen theoretisch nicht einmal das Recht hat, irgend jemand vorzuhalten, er habe falsches Ehrgefühl oder übertriebnes oder zu wenig. Jeder hat das Ehrgefühl, das er verdient. Das Ehrgefühl des Jünglings ist ein andres als das des gereiften Mannes, das der Frauen unterscheidet sich scharf von dem des starkem Geschlechts. Es giebt Menschen, die ein verächtlicher Blick in den Harnisch bringt, und andre, bei denen eine Ohrfeige ohne Zeugen wenigstens keine innern Spuren hinterläßt. Es giebt Menschen, deren Ehre ") Wir haben wiederholt Aufsätze gebracht, die sich gerade in dem entgegengesetzten Sinne D, N, aussprachen, geben aber gern auch dieser Stimme Raum. Grenzboten II 1897 75 ,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/601>, abgerufen am 07.05.2024.