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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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litteratur

Tötung wird mit Gefängnis nicht unter einem Monate bestraft. Nach dem frühern
(preußischen) Strafgesetzbuch stand darauf einfach Gefängnis (bekanntlich von einem
Tage bis zu fünf Jahren). Damals kam folgender Fall vor. Ein Bauer fährt
mit seinem Leiterwagen in starkem Trabe durch die Straßen der Stadt, biegt in
gleichen! Trabe um eine Ecke (was polizeilich verboten ist) und fährt ein zwei¬
jähriges Kind tot. Der Staatsanwalt beantragte -- einen Tag Gefängnis! Das
Gericht ging zwar über den Antrag hinaus, die Strafe war aber sehr gering.
Es mußten wohl solche Fälle mehrfach vorgekommen sein, was vermutlich die Ver¬
anlassung wurde, eine möglichst niedrige Strafe festzusetzen. Ein Beispiel aus
neuester Zeit ist folgendes. Eine Frau mißhandelt fortgesetzt ihre siebenjährige
Stieftochter so, daß die Hausgenossen Anzeige machen. Es wird erwiesen, daß
sie das Kind häufig mit einer Kleiderbürste auf den Kopf und ins Gesicht ge¬
schlagen hat, sodaß das Gesicht voller Beulen und Verletzungen ist, auch daß sie
es im kältesten Winter in der Nacht nackt in den Hof geschickt hatte, um Wasser
zu holen. Offenbar wollte sie das ihr lästige Kind aus der Welt schaffen. Es
wurde erkannt auf -- eine Woche Gefängnis, indem angenommen wurde, sie
habe nur in -- erzieherischer Absicht das Kind, das gelogen habe, strafen wollen!

Wie oft kommt es vor, daß der Angeklagte, der eine empfindliche Gefängnis¬
strafe, vielleicht auch Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verdient hätte, nur
zu einer geringen Geldstrafe verurteilt wird, über die er selbst lacht, oder die für
ihn deshalb gar keine Strafe ist, weil, wie man sehr wohl weiß, andre sie für
ihn bezahlen. Man liest von solchen Fällen alle Tage.

Wir meinen: Wenn der Schuldige zu milde bestraft oder gar freigesprochen
wird, so verletzt das das Rechtsgefühl ebenso, wie wenn er zu hart bestraft, oder
wenn ein Unschuldiger verurteilt wird. Milde ist oft gewiß gerechtfertigt, aber
sie muß ihre Grenzen haben, und der Richter darf sich nicht scheuen, nötigenfalls
auch ernst und nachdrücklich zu strafen. Die jetzt oft geübte Praxis ist keine Ge¬
rechtigkeit.




Litteratur
Vergleichende Übersicht der vier Evangelien, Von S, E, Verus. Leipzig,
Van Dyk, 1897

Der Verfasser hat sich, was ihm zu danken ist, der Aufgabe unterzogen, eine
Synopse aller vier Evangelien in deutscher Sprache zusammenzustellen. Jeder, der
weiß, mit welchen Schwierigkeiten die Gruppirung einer solchen vergleichenden Dar¬
stellung verbunden ist, muß die Sorgfalt und den Fleiß anerkennen, womit der
Verfasser seine Aufgabe zu lösen versucht hat, wenn er auch nicht überall gleicher
Ansicht sein wird. Erleichtert wird der Gebrauch des Buches noch dnrch die ge¬
nauen Angaben an der Spitze und am Eude jedes Stückes über deu Ort, wo die
eigentlich vorhergehenden und folgenden Stellen zu suchen sind, ferner durch den
Schlüssel am Anfang des Buches, mit dessen Hilfe jeder Vers sofort in dem


litteratur

Tötung wird mit Gefängnis nicht unter einem Monate bestraft. Nach dem frühern
(preußischen) Strafgesetzbuch stand darauf einfach Gefängnis (bekanntlich von einem
Tage bis zu fünf Jahren). Damals kam folgender Fall vor. Ein Bauer fährt
mit seinem Leiterwagen in starkem Trabe durch die Straßen der Stadt, biegt in
gleichen! Trabe um eine Ecke (was polizeilich verboten ist) und fährt ein zwei¬
jähriges Kind tot. Der Staatsanwalt beantragte — einen Tag Gefängnis! Das
Gericht ging zwar über den Antrag hinaus, die Strafe war aber sehr gering.
Es mußten wohl solche Fälle mehrfach vorgekommen sein, was vermutlich die Ver¬
anlassung wurde, eine möglichst niedrige Strafe festzusetzen. Ein Beispiel aus
neuester Zeit ist folgendes. Eine Frau mißhandelt fortgesetzt ihre siebenjährige
Stieftochter so, daß die Hausgenossen Anzeige machen. Es wird erwiesen, daß
sie das Kind häufig mit einer Kleiderbürste auf den Kopf und ins Gesicht ge¬
schlagen hat, sodaß das Gesicht voller Beulen und Verletzungen ist, auch daß sie
es im kältesten Winter in der Nacht nackt in den Hof geschickt hatte, um Wasser
zu holen. Offenbar wollte sie das ihr lästige Kind aus der Welt schaffen. Es
wurde erkannt auf — eine Woche Gefängnis, indem angenommen wurde, sie
habe nur in — erzieherischer Absicht das Kind, das gelogen habe, strafen wollen!

Wie oft kommt es vor, daß der Angeklagte, der eine empfindliche Gefängnis¬
strafe, vielleicht auch Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verdient hätte, nur
zu einer geringen Geldstrafe verurteilt wird, über die er selbst lacht, oder die für
ihn deshalb gar keine Strafe ist, weil, wie man sehr wohl weiß, andre sie für
ihn bezahlen. Man liest von solchen Fällen alle Tage.

Wir meinen: Wenn der Schuldige zu milde bestraft oder gar freigesprochen
wird, so verletzt das das Rechtsgefühl ebenso, wie wenn er zu hart bestraft, oder
wenn ein Unschuldiger verurteilt wird. Milde ist oft gewiß gerechtfertigt, aber
sie muß ihre Grenzen haben, und der Richter darf sich nicht scheuen, nötigenfalls
auch ernst und nachdrücklich zu strafen. Die jetzt oft geübte Praxis ist keine Ge¬
rechtigkeit.




Litteratur
Vergleichende Übersicht der vier Evangelien, Von S, E, Verus. Leipzig,
Van Dyk, 1897

Der Verfasser hat sich, was ihm zu danken ist, der Aufgabe unterzogen, eine
Synopse aller vier Evangelien in deutscher Sprache zusammenzustellen. Jeder, der
weiß, mit welchen Schwierigkeiten die Gruppirung einer solchen vergleichenden Dar¬
stellung verbunden ist, muß die Sorgfalt und den Fleiß anerkennen, womit der
Verfasser seine Aufgabe zu lösen versucht hat, wenn er auch nicht überall gleicher
Ansicht sein wird. Erleichtert wird der Gebrauch des Buches noch dnrch die ge¬
nauen Angaben an der Spitze und am Eude jedes Stückes über deu Ort, wo die
eigentlich vorhergehenden und folgenden Stellen zu suchen sind, ferner durch den
Schlüssel am Anfang des Buches, mit dessen Hilfe jeder Vers sofort in dem


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[0644] litteratur Tötung wird mit Gefängnis nicht unter einem Monate bestraft. Nach dem frühern (preußischen) Strafgesetzbuch stand darauf einfach Gefängnis (bekanntlich von einem Tage bis zu fünf Jahren). Damals kam folgender Fall vor. Ein Bauer fährt mit seinem Leiterwagen in starkem Trabe durch die Straßen der Stadt, biegt in gleichen! Trabe um eine Ecke (was polizeilich verboten ist) und fährt ein zwei¬ jähriges Kind tot. Der Staatsanwalt beantragte — einen Tag Gefängnis! Das Gericht ging zwar über den Antrag hinaus, die Strafe war aber sehr gering. Es mußten wohl solche Fälle mehrfach vorgekommen sein, was vermutlich die Ver¬ anlassung wurde, eine möglichst niedrige Strafe festzusetzen. Ein Beispiel aus neuester Zeit ist folgendes. Eine Frau mißhandelt fortgesetzt ihre siebenjährige Stieftochter so, daß die Hausgenossen Anzeige machen. Es wird erwiesen, daß sie das Kind häufig mit einer Kleiderbürste auf den Kopf und ins Gesicht ge¬ schlagen hat, sodaß das Gesicht voller Beulen und Verletzungen ist, auch daß sie es im kältesten Winter in der Nacht nackt in den Hof geschickt hatte, um Wasser zu holen. Offenbar wollte sie das ihr lästige Kind aus der Welt schaffen. Es wurde erkannt auf — eine Woche Gefängnis, indem angenommen wurde, sie habe nur in — erzieherischer Absicht das Kind, das gelogen habe, strafen wollen! Wie oft kommt es vor, daß der Angeklagte, der eine empfindliche Gefängnis¬ strafe, vielleicht auch Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verdient hätte, nur zu einer geringen Geldstrafe verurteilt wird, über die er selbst lacht, oder die für ihn deshalb gar keine Strafe ist, weil, wie man sehr wohl weiß, andre sie für ihn bezahlen. Man liest von solchen Fällen alle Tage. Wir meinen: Wenn der Schuldige zu milde bestraft oder gar freigesprochen wird, so verletzt das das Rechtsgefühl ebenso, wie wenn er zu hart bestraft, oder wenn ein Unschuldiger verurteilt wird. Milde ist oft gewiß gerechtfertigt, aber sie muß ihre Grenzen haben, und der Richter darf sich nicht scheuen, nötigenfalls auch ernst und nachdrücklich zu strafen. Die jetzt oft geübte Praxis ist keine Ge¬ rechtigkeit. Litteratur Vergleichende Übersicht der vier Evangelien, Von S, E, Verus. Leipzig, Van Dyk, 1897 Der Verfasser hat sich, was ihm zu danken ist, der Aufgabe unterzogen, eine Synopse aller vier Evangelien in deutscher Sprache zusammenzustellen. Jeder, der weiß, mit welchen Schwierigkeiten die Gruppirung einer solchen vergleichenden Dar¬ stellung verbunden ist, muß die Sorgfalt und den Fleiß anerkennen, womit der Verfasser seine Aufgabe zu lösen versucht hat, wenn er auch nicht überall gleicher Ansicht sein wird. Erleichtert wird der Gebrauch des Buches noch dnrch die ge¬ nauen Angaben an der Spitze und am Eude jedes Stückes über deu Ort, wo die eigentlich vorhergehenden und folgenden Stellen zu suchen sind, ferner durch den Schlüssel am Anfang des Buches, mit dessen Hilfe jeder Vers sofort in dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/644>, abgerufen am 06.05.2024.