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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Irrenärztliche Zeitfragen

n den letzten Jahren sind immer wieder Klagen laut geworden
über unzureichende Rechtsverhältnisse im Jrrenwesen. Es sind
mancherlei Besorgnisse geäußert worden. Einerseits fürchtet man,
es konnten geistig Gesunde entmündigt und ihrer bürgerlichen
Rechte, ja ihrer Freiheit beraubt werden. Hiergegen ist zu be¬
denken, daß die Entmündigung völlig Gesunder nur möglich wäre, wenn eine
ganze Reihe von Menschen (Verwandte, Richter, Ärzte usw.) gemeinsam eine
verbrecherische Handlung ausführten. Es ist aber einfach nicht wahr, daß das
in Deutschland in den letzten Jahren irgendwo vorgekommen wäre. Jeder
Anlaß zu solcher Besorgnis fehlt also. Sodann zeigt man großes Mißtrauen
gegen die in Strafsachen eingeholtem Gutachten von Irrenärzten. Diese bösen
Menschen stehen in dem Verdacht, daß sie einzelnen krankhaften Erscheinungen
des Seelenlebens zu viel Wert beilegen und es dadurch allzuleicht veranlassen,
daß schreckliche Verbrecher unbilligerweise den Schutz von § 51 des Neichs-
strafgesetzbuchs genießen und ihrer gerechten Strafe entgehen. Uns Irrenärzten
ist es freilich unverständlich, wie man bei uns ein besondres Interesse daran
voraussetzen kann, Menschen, die gegen die Gesetze verstoßen haben, zu be¬
schützen. Es fällt uns gar nicht ein, gegen die Übelthäter, die bei ihrem
Thun geistig frei waren, und die ihre Strafe wohl verdient haben, schwäch¬
liche Gutmütigkeit und Milde zu üben. Uns liegt ebenso wie allen andern
Staatsbürgern daran, daß Ordnung und Gerechtigkeit im Lande herrsche.
Weiter ist die Ansicht geäußert worden, es könne am Schlüsse des neunzehnten
Jahrhunderts vorkommen, daß ein geistig gesunder Mensch mit etwas leb¬
haftem Temperament ohne weiteres in eine Irrenanstalt eingesperrt werde,
wenn er etwa mit seinen Angehörigen in Feindschaft geraten und über eine
Anzahl von Gegenständen andrer Meinung sei, als der zugezogne Herr
Psychiater. Man will deshalb die Aufnahme in eine solche Anstalt von einem
hochnotpeinlichen Gerichtsverfahren abhängig gemacht wissen. Die Veurtcilnng
krankhafter Seelenzustände beruht aber auf klaren naturwissenschaftlichen Grund¬
lagen, und gegenüber der großen Anzahl fachmännisch ganz sicher zu beur¬
teilender Seelenzustände sind es nur Ausnahmen und besonders schwierige
Fälle, wenn verschiedne wirklich sachverständige Ärzte trotz sorgfältiger Unter¬
suchung zu verschiednen Ansichten kommen. Überall schätzt man das Interesse




Irrenärztliche Zeitfragen

n den letzten Jahren sind immer wieder Klagen laut geworden
über unzureichende Rechtsverhältnisse im Jrrenwesen. Es sind
mancherlei Besorgnisse geäußert worden. Einerseits fürchtet man,
es konnten geistig Gesunde entmündigt und ihrer bürgerlichen
Rechte, ja ihrer Freiheit beraubt werden. Hiergegen ist zu be¬
denken, daß die Entmündigung völlig Gesunder nur möglich wäre, wenn eine
ganze Reihe von Menschen (Verwandte, Richter, Ärzte usw.) gemeinsam eine
verbrecherische Handlung ausführten. Es ist aber einfach nicht wahr, daß das
in Deutschland in den letzten Jahren irgendwo vorgekommen wäre. Jeder
Anlaß zu solcher Besorgnis fehlt also. Sodann zeigt man großes Mißtrauen
gegen die in Strafsachen eingeholtem Gutachten von Irrenärzten. Diese bösen
Menschen stehen in dem Verdacht, daß sie einzelnen krankhaften Erscheinungen
des Seelenlebens zu viel Wert beilegen und es dadurch allzuleicht veranlassen,
daß schreckliche Verbrecher unbilligerweise den Schutz von § 51 des Neichs-
strafgesetzbuchs genießen und ihrer gerechten Strafe entgehen. Uns Irrenärzten
ist es freilich unverständlich, wie man bei uns ein besondres Interesse daran
voraussetzen kann, Menschen, die gegen die Gesetze verstoßen haben, zu be¬
schützen. Es fällt uns gar nicht ein, gegen die Übelthäter, die bei ihrem
Thun geistig frei waren, und die ihre Strafe wohl verdient haben, schwäch¬
liche Gutmütigkeit und Milde zu üben. Uns liegt ebenso wie allen andern
Staatsbürgern daran, daß Ordnung und Gerechtigkeit im Lande herrsche.
Weiter ist die Ansicht geäußert worden, es könne am Schlüsse des neunzehnten
Jahrhunderts vorkommen, daß ein geistig gesunder Mensch mit etwas leb¬
haftem Temperament ohne weiteres in eine Irrenanstalt eingesperrt werde,
wenn er etwa mit seinen Angehörigen in Feindschaft geraten und über eine
Anzahl von Gegenständen andrer Meinung sei, als der zugezogne Herr
Psychiater. Man will deshalb die Aufnahme in eine solche Anstalt von einem
hochnotpeinlichen Gerichtsverfahren abhängig gemacht wissen. Die Veurtcilnng
krankhafter Seelenzustände beruht aber auf klaren naturwissenschaftlichen Grund¬
lagen, und gegenüber der großen Anzahl fachmännisch ganz sicher zu beur¬
teilender Seelenzustände sind es nur Ausnahmen und besonders schwierige
Fälle, wenn verschiedne wirklich sachverständige Ärzte trotz sorgfältiger Unter¬
suchung zu verschiednen Ansichten kommen. Überall schätzt man das Interesse


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[0082] [Abbildung] Irrenärztliche Zeitfragen n den letzten Jahren sind immer wieder Klagen laut geworden über unzureichende Rechtsverhältnisse im Jrrenwesen. Es sind mancherlei Besorgnisse geäußert worden. Einerseits fürchtet man, es konnten geistig Gesunde entmündigt und ihrer bürgerlichen Rechte, ja ihrer Freiheit beraubt werden. Hiergegen ist zu be¬ denken, daß die Entmündigung völlig Gesunder nur möglich wäre, wenn eine ganze Reihe von Menschen (Verwandte, Richter, Ärzte usw.) gemeinsam eine verbrecherische Handlung ausführten. Es ist aber einfach nicht wahr, daß das in Deutschland in den letzten Jahren irgendwo vorgekommen wäre. Jeder Anlaß zu solcher Besorgnis fehlt also. Sodann zeigt man großes Mißtrauen gegen die in Strafsachen eingeholtem Gutachten von Irrenärzten. Diese bösen Menschen stehen in dem Verdacht, daß sie einzelnen krankhaften Erscheinungen des Seelenlebens zu viel Wert beilegen und es dadurch allzuleicht veranlassen, daß schreckliche Verbrecher unbilligerweise den Schutz von § 51 des Neichs- strafgesetzbuchs genießen und ihrer gerechten Strafe entgehen. Uns Irrenärzten ist es freilich unverständlich, wie man bei uns ein besondres Interesse daran voraussetzen kann, Menschen, die gegen die Gesetze verstoßen haben, zu be¬ schützen. Es fällt uns gar nicht ein, gegen die Übelthäter, die bei ihrem Thun geistig frei waren, und die ihre Strafe wohl verdient haben, schwäch¬ liche Gutmütigkeit und Milde zu üben. Uns liegt ebenso wie allen andern Staatsbürgern daran, daß Ordnung und Gerechtigkeit im Lande herrsche. Weiter ist die Ansicht geäußert worden, es könne am Schlüsse des neunzehnten Jahrhunderts vorkommen, daß ein geistig gesunder Mensch mit etwas leb¬ haftem Temperament ohne weiteres in eine Irrenanstalt eingesperrt werde, wenn er etwa mit seinen Angehörigen in Feindschaft geraten und über eine Anzahl von Gegenständen andrer Meinung sei, als der zugezogne Herr Psychiater. Man will deshalb die Aufnahme in eine solche Anstalt von einem hochnotpeinlichen Gerichtsverfahren abhängig gemacht wissen. Die Veurtcilnng krankhafter Seelenzustände beruht aber auf klaren naturwissenschaftlichen Grund¬ lagen, und gegenüber der großen Anzahl fachmännisch ganz sicher zu beur¬ teilender Seelenzustände sind es nur Ausnahmen und besonders schwierige Fälle, wenn verschiedne wirklich sachverständige Ärzte trotz sorgfältiger Unter¬ suchung zu verschiednen Ansichten kommen. Überall schätzt man das Interesse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/82>, abgerufen am 07.05.2024.