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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Zu den diesjährigen Kaisermanövern

enge Zeit waren die staatlichen Verhältnisse unsers Vaterlandes
hinter dem Volksbewußtsein zurückgeblieben. Jetzt haben sie es
überholt, und wir müssen hineinwachsen in unser neues Kleid.
Es ist notwendig, sich das immer klar vor Augen zu halten,
denn nur wenn man die Schäden richtig erkennt, kann eine
Besserung, kann vor allen Dingen auch ein billiges Urteil über manche
Erscheinung gewonnen werden, die vielleicht unliebsam ist, aber doch nicht
geradezu reichsfeindlich genannt zu werden braucht. Sowohl diese Klarheit
wie auch die Billigkeit des Urteils ist ein unbedingtes Erfordernis für den
deutschen Politiker; denn noch ist das deutsche Reich nicht so über alle Er¬
schütterungen hinaus, daß es keiner weitern Kräftigung mehr bedürfte. Die
allgemeine Stimmung ist noch leicht erregt und reizbar, sie ist auch zu sehr
abhängig von den Einflüssen der Presse, die ja meistens weit davon entfernt
ist, der Ausdruck der öffentlichen Meinung zu sein, sie vielmehr zu be¬
einflussen sucht, indem sie Ereignisse und Erscheinungen entweder einseitig im
Parteiinteresse auslegt oder gar zu Erwerbszwecken aufbauscht und entstellt.
Bei diesen offenkundiger Gepflogenheiten unsrer Tagespresse kommen gerade
die Thatsachen, die einen wirklichen Fortschritt im innern Ausbau des deutschen
Nationalstaats ausmachen und zur Beruhigung der öffentlichen Meinung bei¬
tragen könnten, zu kurz, werden sogar oft, als den angeführten Zwecken nicht
dienlich, geflissentlich übersehen. Dazu kommt noch ein andrer, unabsichtlicher
Mangel unsrer Zeitungen: sie dischen zwar alltäglich ein buntes Gemisch von
Polnischer Weisheit und von Tagesereignissen aus allen Weltteilen auf, be¬
wirken aber gerade dadurch, daß kein politischer Gedanke vollständig durchdacht
wird. An die Stelle klarer Gedanken tritt dann das politische Schlagwort,


Grenzboten III 1897 1Z


Zu den diesjährigen Kaisermanövern

enge Zeit waren die staatlichen Verhältnisse unsers Vaterlandes
hinter dem Volksbewußtsein zurückgeblieben. Jetzt haben sie es
überholt, und wir müssen hineinwachsen in unser neues Kleid.
Es ist notwendig, sich das immer klar vor Augen zu halten,
denn nur wenn man die Schäden richtig erkennt, kann eine
Besserung, kann vor allen Dingen auch ein billiges Urteil über manche
Erscheinung gewonnen werden, die vielleicht unliebsam ist, aber doch nicht
geradezu reichsfeindlich genannt zu werden braucht. Sowohl diese Klarheit
wie auch die Billigkeit des Urteils ist ein unbedingtes Erfordernis für den
deutschen Politiker; denn noch ist das deutsche Reich nicht so über alle Er¬
schütterungen hinaus, daß es keiner weitern Kräftigung mehr bedürfte. Die
allgemeine Stimmung ist noch leicht erregt und reizbar, sie ist auch zu sehr
abhängig von den Einflüssen der Presse, die ja meistens weit davon entfernt
ist, der Ausdruck der öffentlichen Meinung zu sein, sie vielmehr zu be¬
einflussen sucht, indem sie Ereignisse und Erscheinungen entweder einseitig im
Parteiinteresse auslegt oder gar zu Erwerbszwecken aufbauscht und entstellt.
Bei diesen offenkundiger Gepflogenheiten unsrer Tagespresse kommen gerade
die Thatsachen, die einen wirklichen Fortschritt im innern Ausbau des deutschen
Nationalstaats ausmachen und zur Beruhigung der öffentlichen Meinung bei¬
tragen könnten, zu kurz, werden sogar oft, als den angeführten Zwecken nicht
dienlich, geflissentlich übersehen. Dazu kommt noch ein andrer, unabsichtlicher
Mangel unsrer Zeitungen: sie dischen zwar alltäglich ein buntes Gemisch von
Polnischer Weisheit und von Tagesereignissen aus allen Weltteilen auf, be¬
wirken aber gerade dadurch, daß kein politischer Gedanke vollständig durchdacht
wird. An die Stelle klarer Gedanken tritt dann das politische Schlagwort,


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[0105] [Abbildung] Zu den diesjährigen Kaisermanövern enge Zeit waren die staatlichen Verhältnisse unsers Vaterlandes hinter dem Volksbewußtsein zurückgeblieben. Jetzt haben sie es überholt, und wir müssen hineinwachsen in unser neues Kleid. Es ist notwendig, sich das immer klar vor Augen zu halten, denn nur wenn man die Schäden richtig erkennt, kann eine Besserung, kann vor allen Dingen auch ein billiges Urteil über manche Erscheinung gewonnen werden, die vielleicht unliebsam ist, aber doch nicht geradezu reichsfeindlich genannt zu werden braucht. Sowohl diese Klarheit wie auch die Billigkeit des Urteils ist ein unbedingtes Erfordernis für den deutschen Politiker; denn noch ist das deutsche Reich nicht so über alle Er¬ schütterungen hinaus, daß es keiner weitern Kräftigung mehr bedürfte. Die allgemeine Stimmung ist noch leicht erregt und reizbar, sie ist auch zu sehr abhängig von den Einflüssen der Presse, die ja meistens weit davon entfernt ist, der Ausdruck der öffentlichen Meinung zu sein, sie vielmehr zu be¬ einflussen sucht, indem sie Ereignisse und Erscheinungen entweder einseitig im Parteiinteresse auslegt oder gar zu Erwerbszwecken aufbauscht und entstellt. Bei diesen offenkundiger Gepflogenheiten unsrer Tagespresse kommen gerade die Thatsachen, die einen wirklichen Fortschritt im innern Ausbau des deutschen Nationalstaats ausmachen und zur Beruhigung der öffentlichen Meinung bei¬ tragen könnten, zu kurz, werden sogar oft, als den angeführten Zwecken nicht dienlich, geflissentlich übersehen. Dazu kommt noch ein andrer, unabsichtlicher Mangel unsrer Zeitungen: sie dischen zwar alltäglich ein buntes Gemisch von Polnischer Weisheit und von Tagesereignissen aus allen Weltteilen auf, be¬ wirken aber gerade dadurch, daß kein politischer Gedanke vollständig durchdacht wird. An die Stelle klarer Gedanken tritt dann das politische Schlagwort, Grenzboten III 1897 1Z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/105>, abgerufen am 01.05.2024.