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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die Reichsdeutschen und die Deutsch-Österreicher

usre Volksgenossen in Österreich, vor allem in den deutsch¬
slawischen Ländern, sind jetzt in einer beklagenswerten Lage. Der
alte Nativnalitätenstreit ist seit den unseligen Sprachverordnungen
des Grafen Badeui zu hellen Flammen aufgelodert, und hie
und da ist es zu Auftritten gekommen, die vom Bürgerkriege
nicht mehr weit entfernt sind. Die Negierung weiß sich nicht anders zu helfen
als mit Gendarmerie und Militär und mit dem Verbot jeder politischen
Versammlung, sie mag von Deutschen oder von Tschechen berufen werden.
Die Deutschen fühlen sich von eiuer rohen Mehrheit bedroht und ver¬
gewaltigt, sie sind aufs äußerste darüber erbittert, daß eine "polnische Regie¬
rung" die alte Vorherrschaft ihrer Sprache und Kultur der nimmersatten
slawischen Begehrlichkeit opfert, und sie empfinden das zugleich als einen
schweren Undank, da sie -- und nur sie -- Österreich gegründet und erhalten
haben, während alle andern Stämme immer nur an ihre Sonderiuteresseu ge¬
dacht haben und denken; ja sie beginnen an der Zukunft ihres Staates zu
verzweifeln, und ihre österreichische Staatsgesinnung, selbst ihre Auhüuglichkeit
an die Dynastie gerät ins Wanken. Und zwar geschieht das keineswegs nur
in Böhmen und Mähren, auch die Deutschen der Donau- und Alpenlande
nehmen leidenschaftlich Partei sür ihre Stammesgenossen, und sogar in dein
allezeit kaisertreuen Tirol kann man die Ansicht aussprechen hören, die so hoch
gepriesene Erhebung von 1809 sei eine klerikale Macheuschaft gewesen, und es
sei tief zu beklagen, daß Tirol 1814 uicht bei Baiern geblieben sei.

Nun wird wohl behauptet, darau sei die Trennung Österreichs von
Deutschland im Jahre 18"6 schuld. Aber dagegen muß man doch fragen:
Hat jemals nach Joseph II. eine österreichische Regierung den Versuch ge¬
macht, die Deutschen als den herrschenden Stamm zu behandeln, ihnen die


Grenzboten 111 18V7 in


Die Reichsdeutschen und die Deutsch-Österreicher

usre Volksgenossen in Österreich, vor allem in den deutsch¬
slawischen Ländern, sind jetzt in einer beklagenswerten Lage. Der
alte Nativnalitätenstreit ist seit den unseligen Sprachverordnungen
des Grafen Badeui zu hellen Flammen aufgelodert, und hie
und da ist es zu Auftritten gekommen, die vom Bürgerkriege
nicht mehr weit entfernt sind. Die Negierung weiß sich nicht anders zu helfen
als mit Gendarmerie und Militär und mit dem Verbot jeder politischen
Versammlung, sie mag von Deutschen oder von Tschechen berufen werden.
Die Deutschen fühlen sich von eiuer rohen Mehrheit bedroht und ver¬
gewaltigt, sie sind aufs äußerste darüber erbittert, daß eine „polnische Regie¬
rung" die alte Vorherrschaft ihrer Sprache und Kultur der nimmersatten
slawischen Begehrlichkeit opfert, und sie empfinden das zugleich als einen
schweren Undank, da sie — und nur sie — Österreich gegründet und erhalten
haben, während alle andern Stämme immer nur an ihre Sonderiuteresseu ge¬
dacht haben und denken; ja sie beginnen an der Zukunft ihres Staates zu
verzweifeln, und ihre österreichische Staatsgesinnung, selbst ihre Auhüuglichkeit
an die Dynastie gerät ins Wanken. Und zwar geschieht das keineswegs nur
in Böhmen und Mähren, auch die Deutschen der Donau- und Alpenlande
nehmen leidenschaftlich Partei sür ihre Stammesgenossen, und sogar in dein
allezeit kaisertreuen Tirol kann man die Ansicht aussprechen hören, die so hoch
gepriesene Erhebung von 1809 sei eine klerikale Macheuschaft gewesen, und es
sei tief zu beklagen, daß Tirol 1814 uicht bei Baiern geblieben sei.

Nun wird wohl behauptet, darau sei die Trennung Österreichs von
Deutschland im Jahre 18»6 schuld. Aber dagegen muß man doch fragen:
Hat jemals nach Joseph II. eine österreichische Regierung den Versuch ge¬
macht, die Deutschen als den herrschenden Stamm zu behandeln, ihnen die


Grenzboten 111 18V7 in
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[0489] [Abbildung] Die Reichsdeutschen und die Deutsch-Österreicher usre Volksgenossen in Österreich, vor allem in den deutsch¬ slawischen Ländern, sind jetzt in einer beklagenswerten Lage. Der alte Nativnalitätenstreit ist seit den unseligen Sprachverordnungen des Grafen Badeui zu hellen Flammen aufgelodert, und hie und da ist es zu Auftritten gekommen, die vom Bürgerkriege nicht mehr weit entfernt sind. Die Negierung weiß sich nicht anders zu helfen als mit Gendarmerie und Militär und mit dem Verbot jeder politischen Versammlung, sie mag von Deutschen oder von Tschechen berufen werden. Die Deutschen fühlen sich von eiuer rohen Mehrheit bedroht und ver¬ gewaltigt, sie sind aufs äußerste darüber erbittert, daß eine „polnische Regie¬ rung" die alte Vorherrschaft ihrer Sprache und Kultur der nimmersatten slawischen Begehrlichkeit opfert, und sie empfinden das zugleich als einen schweren Undank, da sie — und nur sie — Österreich gegründet und erhalten haben, während alle andern Stämme immer nur an ihre Sonderiuteresseu ge¬ dacht haben und denken; ja sie beginnen an der Zukunft ihres Staates zu verzweifeln, und ihre österreichische Staatsgesinnung, selbst ihre Auhüuglichkeit an die Dynastie gerät ins Wanken. Und zwar geschieht das keineswegs nur in Böhmen und Mähren, auch die Deutschen der Donau- und Alpenlande nehmen leidenschaftlich Partei sür ihre Stammesgenossen, und sogar in dein allezeit kaisertreuen Tirol kann man die Ansicht aussprechen hören, die so hoch gepriesene Erhebung von 1809 sei eine klerikale Macheuschaft gewesen, und es sei tief zu beklagen, daß Tirol 1814 uicht bei Baiern geblieben sei. Nun wird wohl behauptet, darau sei die Trennung Österreichs von Deutschland im Jahre 18»6 schuld. Aber dagegen muß man doch fragen: Hat jemals nach Joseph II. eine österreichische Regierung den Versuch ge¬ macht, die Deutschen als den herrschenden Stamm zu behandeln, ihnen die Grenzboten 111 18V7 in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/489>, abgerufen am 01.05.2024.