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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

Politiker erscheinen, wie wenig nationale Vorteile die Deutschen für ihre politischen
und Knlturdienste zu erwerben gewußt, mit wie wenig Erfolg sie selbst der an¬
schwellenden Flut des Nativismus entgegenzutreten vermocht haben. Hier liegen
die Aufgaben der Zukunft des Deutschtums in Nordamerika, zu deren Losung, wir
wiederholen es, die historische Forschung beitragen kann und muß.




Litteratur
Eine Sozialphilosophie. Dr. Ludwig Stein,

Professor der Philosophie
an der Universität Bern, hat eine Reihe von Vorlesungen "über Sozialphilosophie
und ihre Geschichte" unter dem Titel Die soziale Frage im Lichte der
Philosophie herausgegeben (Stuttgart, Ferdinand Ente, 1397). Das dicke Buch
(791 Seiten) ist eine bedeutende Erscheinung, nicht wegen des Berges von Gelehr¬
samkeit, der darin aufgetürmt ist -- ohne eine gnuzc Bibliothek hineinzuarbeiten,
machen nun einmal unsre Professoren kein Buch mehr fertig, was aber mehr ein
ruhmvolles Zeugnis für ihren Riesenfleiß und ihre Gewissenhaftigkeit als ein Vor¬
teil für die Leser ist --, sondern weil der Verfasser darin eine geschlossene Welt-
ansicht entwickelt, der gegenüber man, zustimmend oder ablehnend, Stellung nehmen
kann. Wir wollen es versuchen, ihre Umrisse zu zeichnen, und lassen uns auf eine
.Kritik, da sie zu weit führen würde, nicht ein.

Den Inhalt der Sozialphilosophie, die nichts andres ist als die Philosophie
überhaupt vom Standpunkte unsrer heutigen Erkenntnis, bilden die Formen und
Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens,- die Methode
der Untersuchung ist vou der im Reiche der Wissenschaft heute anerkannten Ent-
wicklungslehre zu entlehnen. Diese Methode fordert, daß der Mensch und die
menschliche Gesellschaft als reine Naturerzeugnisse angesehen werden, und der Geist
in die Kausalreihe eingefügt werde. Aber die Kausalität schließt deu Endzweck
nicht aus, vielmehr wird die Welt von ihrer "immanenten Teleologie" beherrscht.
Zu untersuchen und darzustellen sind also: der Ursprung alles menschlichen Gemein¬
schaftslebens, der "geschichtliche Werdegang der sozialen Organismen," der gegen¬
wärtige Zustand der Gesellschaft, woraus sich die Aufgaben der Gegenwart ergeben.
Eingefügt wird noch eine Geschichte der Sozinlphilosophie.

Von den Formen des Zusammenlebens sind die einen relativ stabil; es sind
das: Familie, Eigentum, Gesellschaft und Staat, die andern: Sprache, Recht,
Religion, Technik, Kunst, Moral, Philosophie nennt Stein labil. (Hier können
wir doch eine kritische Bemerkung nicht unterdrücken; der Familie und dem Staate
kann man nicht Sprache, Religion und Technik, sondern mir Nation, Kirche und
Zunft gleichordnen.) Die Untersuchung der Familie kommt zu dem Ergebnis: "Hat
sich die Einehe, rein als natürlicher Evolutionsprozcß ssoll wohl heißen, als Er¬
zeugnis des Evolutiousprozesses^ der Familie betrachtet, als gestaltveredelnd und
rassenhcbend erwiesen, dann hat sie dem Hentclebenden nicht bloß darum als recht¬
lich unantastbar zu gelten, weil Staat, Kirche und Moral sie fordern, sondern zu-


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Politiker erscheinen, wie wenig nationale Vorteile die Deutschen für ihre politischen
und Knlturdienste zu erwerben gewußt, mit wie wenig Erfolg sie selbst der an¬
schwellenden Flut des Nativismus entgegenzutreten vermocht haben. Hier liegen
die Aufgaben der Zukunft des Deutschtums in Nordamerika, zu deren Losung, wir
wiederholen es, die historische Forschung beitragen kann und muß.




Litteratur
Eine Sozialphilosophie. Dr. Ludwig Stein,

Professor der Philosophie
an der Universität Bern, hat eine Reihe von Vorlesungen „über Sozialphilosophie
und ihre Geschichte" unter dem Titel Die soziale Frage im Lichte der
Philosophie herausgegeben (Stuttgart, Ferdinand Ente, 1397). Das dicke Buch
(791 Seiten) ist eine bedeutende Erscheinung, nicht wegen des Berges von Gelehr¬
samkeit, der darin aufgetürmt ist — ohne eine gnuzc Bibliothek hineinzuarbeiten,
machen nun einmal unsre Professoren kein Buch mehr fertig, was aber mehr ein
ruhmvolles Zeugnis für ihren Riesenfleiß und ihre Gewissenhaftigkeit als ein Vor¬
teil für die Leser ist —, sondern weil der Verfasser darin eine geschlossene Welt-
ansicht entwickelt, der gegenüber man, zustimmend oder ablehnend, Stellung nehmen
kann. Wir wollen es versuchen, ihre Umrisse zu zeichnen, und lassen uns auf eine
.Kritik, da sie zu weit führen würde, nicht ein.

Den Inhalt der Sozialphilosophie, die nichts andres ist als die Philosophie
überhaupt vom Standpunkte unsrer heutigen Erkenntnis, bilden die Formen und
Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens,- die Methode
der Untersuchung ist vou der im Reiche der Wissenschaft heute anerkannten Ent-
wicklungslehre zu entlehnen. Diese Methode fordert, daß der Mensch und die
menschliche Gesellschaft als reine Naturerzeugnisse angesehen werden, und der Geist
in die Kausalreihe eingefügt werde. Aber die Kausalität schließt deu Endzweck
nicht aus, vielmehr wird die Welt von ihrer „immanenten Teleologie" beherrscht.
Zu untersuchen und darzustellen sind also: der Ursprung alles menschlichen Gemein¬
schaftslebens, der „geschichtliche Werdegang der sozialen Organismen," der gegen¬
wärtige Zustand der Gesellschaft, woraus sich die Aufgaben der Gegenwart ergeben.
Eingefügt wird noch eine Geschichte der Sozinlphilosophie.

Von den Formen des Zusammenlebens sind die einen relativ stabil; es sind
das: Familie, Eigentum, Gesellschaft und Staat, die andern: Sprache, Recht,
Religion, Technik, Kunst, Moral, Philosophie nennt Stein labil. (Hier können
wir doch eine kritische Bemerkung nicht unterdrücken; der Familie und dem Staate
kann man nicht Sprache, Religion und Technik, sondern mir Nation, Kirche und
Zunft gleichordnen.) Die Untersuchung der Familie kommt zu dem Ergebnis: „Hat
sich die Einehe, rein als natürlicher Evolutionsprozcß ssoll wohl heißen, als Er¬
zeugnis des Evolutiousprozesses^ der Familie betrachtet, als gestaltveredelnd und
rassenhcbend erwiesen, dann hat sie dem Hentclebenden nicht bloß darum als recht¬
lich unantastbar zu gelten, weil Staat, Kirche und Moral sie fordern, sondern zu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/530>, abgerufen am 01.05.2024.