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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Meyers Konversationslexikon

Autoritätsbedürfnis wird in Karlsruhe und Berlin gerade so hoch geschützt wie
im Freiburger Konvikt und im Vatikan; in den Ammon politisch nahestehenden
Kreisen kann er täglich über den Schwund des Autoritätsgefühls und über
die um sich greifende revolutionäre Gesinnung jammern hören, und wenn die
pommerschen Bauern anfangen, eine von der ihrer Gutsherrn abweichende
Ansicht über Steuern und Gemeindeverfassung zu äußern, so verbietet der
Landrat ihre Versammlungen und läßt ihre Flugschriften und Zeitungen kon-
fiszircn. Nach der Theorie Ammons müßten eigentlich nur die Herrschenden
Protestanten, alle Unterthanen dagegen Katholiken sein, und in der That
sieht man häufig, wie Gutsbesitzer und Fabrikanten die katholischen Polen
als Arbeiter vorziehen, weil sie billiger und williger sind. Wenn dieselben
Herren die Germanisirungspolitik billigen, d. h. die Aufhebung der Eigen¬
schaften anstreben, um deretwillen sie die Polen vorziehen, so ist das eine
der Thatsachen, die den Sozialisten Ritter von Neupauer zu der Ansicht zu
berechtigen scheinen, die Männer der höhern Stände erlitten durch den Schul¬
drill die Kastration ihres Denkvermögens.

(Schluß folgt)




Meyers Konversationslexikon

eher das Wesen, den innern Organismus und die äußere Bedeutung
der großen Encyklopädien, die in Zwischenräumen von fünf bis sechs
Jahren einen Überblick über das Wissen und Können der Zeit in
sechzehn oder siebzehn Bänden zusammenfassen wollen, kann nur einer
richtig Auskunft geben, der an der Arbeit hinter den Kulissen teil
geommen hat, an den unablässigen Mühen und Sorgen, die ihn wie seiue
Arbeitsgenossen vom ersten bis zum letzten Bande begleitet und auch unes Vollendung
des letzten sich noch nicht in eine reine Befriedigung aufgelöst haben. Denn während
der Arbeit schreitet der forschende Geist auf seinen geheimnisvollen Wegen ruhelos
weiter, um vielleicht auszustreichen, was die sammelnde und registrirende Wissen¬
schaft kurz vorher als sicheres Kapital gebucht hatte. Wenn aber einer das Wort
zu Gunsten eines Bauwerks nimmt, an dem er selbst mitgeholfen hat, so darf er
um Mißtrauen nicht sorgen. Die Reklame hat auch in unserm Vnterlande eine so
unheimliche Macht gewonnen, daß auch der vertrauensseligste Mensch zweifelsüchtig
geworden ist und ihr aus dem Wege geht, wo sie ihm offen entgegentritt. Freilich
fällt er dann oft trotz aller Vorsicht doch in die Schlingen, die sie ihm insgeheim
ausbreitet. Zu den versteckten Reklamen werden von den besonders Mißtranischen
auch Bücheranzeigen gerechnet, selbst wenn sie, von angesehenen Schriftstellern unter¬
zeichnet, in ehrenwerten Zeitungen und Zeitschriften erscheinen. Das große Publikum


Meyers Konversationslexikon

Autoritätsbedürfnis wird in Karlsruhe und Berlin gerade so hoch geschützt wie
im Freiburger Konvikt und im Vatikan; in den Ammon politisch nahestehenden
Kreisen kann er täglich über den Schwund des Autoritätsgefühls und über
die um sich greifende revolutionäre Gesinnung jammern hören, und wenn die
pommerschen Bauern anfangen, eine von der ihrer Gutsherrn abweichende
Ansicht über Steuern und Gemeindeverfassung zu äußern, so verbietet der
Landrat ihre Versammlungen und läßt ihre Flugschriften und Zeitungen kon-
fiszircn. Nach der Theorie Ammons müßten eigentlich nur die Herrschenden
Protestanten, alle Unterthanen dagegen Katholiken sein, und in der That
sieht man häufig, wie Gutsbesitzer und Fabrikanten die katholischen Polen
als Arbeiter vorziehen, weil sie billiger und williger sind. Wenn dieselben
Herren die Germanisirungspolitik billigen, d. h. die Aufhebung der Eigen¬
schaften anstreben, um deretwillen sie die Polen vorziehen, so ist das eine
der Thatsachen, die den Sozialisten Ritter von Neupauer zu der Ansicht zu
berechtigen scheinen, die Männer der höhern Stände erlitten durch den Schul¬
drill die Kastration ihres Denkvermögens.

(Schluß folgt)




Meyers Konversationslexikon

eher das Wesen, den innern Organismus und die äußere Bedeutung
der großen Encyklopädien, die in Zwischenräumen von fünf bis sechs
Jahren einen Überblick über das Wissen und Können der Zeit in
sechzehn oder siebzehn Bänden zusammenfassen wollen, kann nur einer
richtig Auskunft geben, der an der Arbeit hinter den Kulissen teil
geommen hat, an den unablässigen Mühen und Sorgen, die ihn wie seiue
Arbeitsgenossen vom ersten bis zum letzten Bande begleitet und auch unes Vollendung
des letzten sich noch nicht in eine reine Befriedigung aufgelöst haben. Denn während
der Arbeit schreitet der forschende Geist auf seinen geheimnisvollen Wegen ruhelos
weiter, um vielleicht auszustreichen, was die sammelnde und registrirende Wissen¬
schaft kurz vorher als sicheres Kapital gebucht hatte. Wenn aber einer das Wort
zu Gunsten eines Bauwerks nimmt, an dem er selbst mitgeholfen hat, so darf er
um Mißtrauen nicht sorgen. Die Reklame hat auch in unserm Vnterlande eine so
unheimliche Macht gewonnen, daß auch der vertrauensseligste Mensch zweifelsüchtig
geworden ist und ihr aus dem Wege geht, wo sie ihm offen entgegentritt. Freilich
fällt er dann oft trotz aller Vorsicht doch in die Schlingen, die sie ihm insgeheim
ausbreitet. Zu den versteckten Reklamen werden von den besonders Mißtranischen
auch Bücheranzeigen gerechnet, selbst wenn sie, von angesehenen Schriftstellern unter¬
zeichnet, in ehrenwerten Zeitungen und Zeitschriften erscheinen. Das große Publikum


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[0436] Meyers Konversationslexikon Autoritätsbedürfnis wird in Karlsruhe und Berlin gerade so hoch geschützt wie im Freiburger Konvikt und im Vatikan; in den Ammon politisch nahestehenden Kreisen kann er täglich über den Schwund des Autoritätsgefühls und über die um sich greifende revolutionäre Gesinnung jammern hören, und wenn die pommerschen Bauern anfangen, eine von der ihrer Gutsherrn abweichende Ansicht über Steuern und Gemeindeverfassung zu äußern, so verbietet der Landrat ihre Versammlungen und läßt ihre Flugschriften und Zeitungen kon- fiszircn. Nach der Theorie Ammons müßten eigentlich nur die Herrschenden Protestanten, alle Unterthanen dagegen Katholiken sein, und in der That sieht man häufig, wie Gutsbesitzer und Fabrikanten die katholischen Polen als Arbeiter vorziehen, weil sie billiger und williger sind. Wenn dieselben Herren die Germanisirungspolitik billigen, d. h. die Aufhebung der Eigen¬ schaften anstreben, um deretwillen sie die Polen vorziehen, so ist das eine der Thatsachen, die den Sozialisten Ritter von Neupauer zu der Ansicht zu berechtigen scheinen, die Männer der höhern Stände erlitten durch den Schul¬ drill die Kastration ihres Denkvermögens. (Schluß folgt) Meyers Konversationslexikon eher das Wesen, den innern Organismus und die äußere Bedeutung der großen Encyklopädien, die in Zwischenräumen von fünf bis sechs Jahren einen Überblick über das Wissen und Können der Zeit in sechzehn oder siebzehn Bänden zusammenfassen wollen, kann nur einer richtig Auskunft geben, der an der Arbeit hinter den Kulissen teil geommen hat, an den unablässigen Mühen und Sorgen, die ihn wie seiue Arbeitsgenossen vom ersten bis zum letzten Bande begleitet und auch unes Vollendung des letzten sich noch nicht in eine reine Befriedigung aufgelöst haben. Denn während der Arbeit schreitet der forschende Geist auf seinen geheimnisvollen Wegen ruhelos weiter, um vielleicht auszustreichen, was die sammelnde und registrirende Wissen¬ schaft kurz vorher als sicheres Kapital gebucht hatte. Wenn aber einer das Wort zu Gunsten eines Bauwerks nimmt, an dem er selbst mitgeholfen hat, so darf er um Mißtrauen nicht sorgen. Die Reklame hat auch in unserm Vnterlande eine so unheimliche Macht gewonnen, daß auch der vertrauensseligste Mensch zweifelsüchtig geworden ist und ihr aus dem Wege geht, wo sie ihm offen entgegentritt. Freilich fällt er dann oft trotz aller Vorsicht doch in die Schlingen, die sie ihm insgeheim ausbreitet. Zu den versteckten Reklamen werden von den besonders Mißtranischen auch Bücheranzeigen gerechnet, selbst wenn sie, von angesehenen Schriftstellern unter¬ zeichnet, in ehrenwerten Zeitungen und Zeitschriften erscheinen. Das große Publikum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/436>, abgerufen am 06.05.2024.