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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Stenographie im Dienste der 5>hakespearekunde
Hermann Lonrad von

n dem Zeitalter der Dampfkraft und der Maschinenarbeit, des
Telephons und der Luftschiffe, wo die materielle Kultur einen
bisher nicht dagewesenen Aufschwung genommen hat, und der
Materialismus wieder einmal seine brutale, aber dauerlose Herr¬
schaft führt, sind die rein geistigen Bestrebungen, die ihrem
Träger nicht unmittelbare und sichtbare materielle Erfolge gewährleisten, etwas
in Mißkredit geraten. Aus dieser Erscheinung den Grund für einen prin¬
zipiellen Pessimismus herzuleiten, wäre richtige Eintagsfliegenphilosophie -- ich
meine eine Philosophie, wie sie solche Eintagsfliegen, zu denen der Materia¬
lismus die Menschen stempeln möchte, gerade erreichen könnten --, der geistigen
Natur des Menschen aber, die ihn zu einer über die engen Grenzen seines
Daseins unendlich weit hinausgehenden Erkenntnis befähigt, unwürdig. So oft
die Trüger idealer Bestrebungen an den vielen Markttagen des heutigen Lebens
auch ins Gedränge geraten mögen, sie sollten sich niemals die Gewißheit ver¬
dunkeln lassen, daß das letzte Ergebnis jeder, auch der materiellen Entwicklung
ein ideeller Fortschritt sein muß. Die Überzeugung von diesem in der Welt-
entwicklung zu Tage tretenden Gesetze muß ihnen Trost und Festigkeit geben.

Eine hübsche clömovstratio aä 0puto8 in dieser Beziehung giebt eine
Schrift, die den merkwürdigen Titel führt: "Shakespeare und die Anfänge der
englischen Stenographie, ein Beitrag zur Genesis der Shakespearedramen,"*)
und die die Stenographie im Dienste der Geisteswissenschaft zeigt. Die Steno¬
graphie, ein rein praktisches Kenntnisgebiet, wie ihre Ausübung nur eine
körperliche Fertigkeit ist, muß, steril wie sie an sich ist, sofort ideelle Früchte
hergeben, sobald sie der Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtungs¬
weise wird.

Der Satz, mit dem der Verfasser seine Schrift beginnt: "Einen Shake¬
speare verdanken wir nicht zum mindesten der Stenographie" ist nicht un¬
mittelbar verständlich; er ist das Ergebnis folgenden Gedankengangs. Das
Drama galt in Shakespeares Zeit nicht für ein vollwichtiges Litteraturprodukt,



Von Kurt Dewischeit. Berlin, Verlag des Verbandes Stolzescher Stenographenvereine
(H, Schumann), 1897.


Die Stenographie im Dienste der 5>hakespearekunde
Hermann Lonrad von

n dem Zeitalter der Dampfkraft und der Maschinenarbeit, des
Telephons und der Luftschiffe, wo die materielle Kultur einen
bisher nicht dagewesenen Aufschwung genommen hat, und der
Materialismus wieder einmal seine brutale, aber dauerlose Herr¬
schaft führt, sind die rein geistigen Bestrebungen, die ihrem
Träger nicht unmittelbare und sichtbare materielle Erfolge gewährleisten, etwas
in Mißkredit geraten. Aus dieser Erscheinung den Grund für einen prin¬
zipiellen Pessimismus herzuleiten, wäre richtige Eintagsfliegenphilosophie — ich
meine eine Philosophie, wie sie solche Eintagsfliegen, zu denen der Materia¬
lismus die Menschen stempeln möchte, gerade erreichen könnten —, der geistigen
Natur des Menschen aber, die ihn zu einer über die engen Grenzen seines
Daseins unendlich weit hinausgehenden Erkenntnis befähigt, unwürdig. So oft
die Trüger idealer Bestrebungen an den vielen Markttagen des heutigen Lebens
auch ins Gedränge geraten mögen, sie sollten sich niemals die Gewißheit ver¬
dunkeln lassen, daß das letzte Ergebnis jeder, auch der materiellen Entwicklung
ein ideeller Fortschritt sein muß. Die Überzeugung von diesem in der Welt-
entwicklung zu Tage tretenden Gesetze muß ihnen Trost und Festigkeit geben.

Eine hübsche clömovstratio aä 0puto8 in dieser Beziehung giebt eine
Schrift, die den merkwürdigen Titel führt: „Shakespeare und die Anfänge der
englischen Stenographie, ein Beitrag zur Genesis der Shakespearedramen,"*)
und die die Stenographie im Dienste der Geisteswissenschaft zeigt. Die Steno¬
graphie, ein rein praktisches Kenntnisgebiet, wie ihre Ausübung nur eine
körperliche Fertigkeit ist, muß, steril wie sie an sich ist, sofort ideelle Früchte
hergeben, sobald sie der Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtungs¬
weise wird.

Der Satz, mit dem der Verfasser seine Schrift beginnt: „Einen Shake¬
speare verdanken wir nicht zum mindesten der Stenographie" ist nicht un¬
mittelbar verständlich; er ist das Ergebnis folgenden Gedankengangs. Das
Drama galt in Shakespeares Zeit nicht für ein vollwichtiges Litteraturprodukt,



Von Kurt Dewischeit. Berlin, Verlag des Verbandes Stolzescher Stenographenvereine
(H, Schumann), 1897.
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[0122] [Abbildung] Die Stenographie im Dienste der 5>hakespearekunde Hermann Lonrad von n dem Zeitalter der Dampfkraft und der Maschinenarbeit, des Telephons und der Luftschiffe, wo die materielle Kultur einen bisher nicht dagewesenen Aufschwung genommen hat, und der Materialismus wieder einmal seine brutale, aber dauerlose Herr¬ schaft führt, sind die rein geistigen Bestrebungen, die ihrem Träger nicht unmittelbare und sichtbare materielle Erfolge gewährleisten, etwas in Mißkredit geraten. Aus dieser Erscheinung den Grund für einen prin¬ zipiellen Pessimismus herzuleiten, wäre richtige Eintagsfliegenphilosophie — ich meine eine Philosophie, wie sie solche Eintagsfliegen, zu denen der Materia¬ lismus die Menschen stempeln möchte, gerade erreichen könnten —, der geistigen Natur des Menschen aber, die ihn zu einer über die engen Grenzen seines Daseins unendlich weit hinausgehenden Erkenntnis befähigt, unwürdig. So oft die Trüger idealer Bestrebungen an den vielen Markttagen des heutigen Lebens auch ins Gedränge geraten mögen, sie sollten sich niemals die Gewißheit ver¬ dunkeln lassen, daß das letzte Ergebnis jeder, auch der materiellen Entwicklung ein ideeller Fortschritt sein muß. Die Überzeugung von diesem in der Welt- entwicklung zu Tage tretenden Gesetze muß ihnen Trost und Festigkeit geben. Eine hübsche clömovstratio aä 0puto8 in dieser Beziehung giebt eine Schrift, die den merkwürdigen Titel führt: „Shakespeare und die Anfänge der englischen Stenographie, ein Beitrag zur Genesis der Shakespearedramen,"*) und die die Stenographie im Dienste der Geisteswissenschaft zeigt. Die Steno¬ graphie, ein rein praktisches Kenntnisgebiet, wie ihre Ausübung nur eine körperliche Fertigkeit ist, muß, steril wie sie an sich ist, sofort ideelle Früchte hergeben, sobald sie der Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtungs¬ weise wird. Der Satz, mit dem der Verfasser seine Schrift beginnt: „Einen Shake¬ speare verdanken wir nicht zum mindesten der Stenographie" ist nicht un¬ mittelbar verständlich; er ist das Ergebnis folgenden Gedankengangs. Das Drama galt in Shakespeares Zeit nicht für ein vollwichtiges Litteraturprodukt, Von Kurt Dewischeit. Berlin, Verlag des Verbandes Stolzescher Stenographenvereine (H, Schumann), 1897.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/122>, abgerufen am 29.04.2024.