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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

Prozesse der Gesellschaft gegen den Einzelnen. Nur indem er die beiderseitigen
Interessen sorgsam gegen einander abwägt, gelangt er zur Gerechtigkeit. Der
Verbrecher allein ist niemals das allein zu berücksichtigende Rechtsobjekt.

Noch heute sehr lesenswert ist der Aufsatz von I. Möser über die Todes¬
strafe/") Er fragt nicht, woher die Obrigkeit das Recht erhalten habe, diesen
oder jenen Verbrecher mit dem Tode zu bestrafen, sondern er fragt, woher
die Obrigkeit das Recht habe, diesen oder jenen Verbrecher am Leben zu
erhalten. Nachdem die Blutrache als mit der staatlichen Ordnung unverträglich
erkannt war, griff der Staat mit dem Strafgesetz ein. "Die Obrigkeit lieh
nicht so oft dem Rächer ihr Schwert, als sie den Verbrecher in Schutz nahm.
Es war mehr Wohlthat für diesen als für jenen, daß sie der Privatrache Ziel
setzte; und so wäre es ein offenbarer Mißbrauch ihres Amtes gewesen, wenn
sie dem Verbrecher zu viel nachgegeben und ihn in den Füllen verschont hätte,
worin ihn der Beleidigte umbringen konnte. Alles, was sie thun konnte,
mußte darauf hinausgehen, den unwilligen oder unglücklichen Totschläger von
dem vorsätzlichen und schuldigen Mörder zu unterscheiden. . . . Das Recht der
Privatrache geht im Stande der Natur so weit als die Macht, und man weiß
von keinen andern Grenzen; und wie schwer es gehalten habe, die Menschen
von diesem Grundsatze abzubringen, legt sich am ersten daraus zu Tage, daß
fast kein einziger Gesetzgeber es gewagt, denselben geradezu und auf einmal
umzustoßen, sondern überall zuerst gesucht, denselben durch Anordnung gewisser
Freiörter, **) wo der Verbrecher gegen seinen Verfolger sicher war, allmählich
zu schwächen. Diesemnach scheint es, daß man die Vermutung für die Privat¬
rache -- welche noch jetzt in gewissen Fällen, wo die Ehre eines Mannes be¬
leidigt ist, aller Gesetzgebung und allen Strafen trotzt -- fassen und von der
Obrigkeit den Beweis fordern könne, wodurch sie sich berechtigt halte, gewisse
Verbrecher beim Leben zu erhalten."

Leider ist unter der Herrschaft des freisinnigen Zeitgeistes die Politik in
das Rechtsgebiet eingedrungen und hat es so weit gebracht, daß das Unrecht
vor zu weit gehender Verfolgung mehr geschützt ist, als das Recht vor dem
Verbrechen. Das Gericht, wie es thatsächlich ist, schreckt den Gewohnheits¬
verbrecher nicht ab, bessert den Schwachen nicht und macht ihn doch unglücklich.


3

Der Mensch ist weder Engel noch Teufel; er ist nicht von Haus aus ein
Normalwesen, das von selber das Gute thut und nur besserer Einsicht bedürfte,
er ist auch nicht von Natur ein Kranker, den zu strafen Unsinn wäre, sondern
er ist ursprünglich ein Egoist, der zu einem geselligen Leben erzogen werden
muß. Der naive Egoismus der Kinder ist ja allbekannt. Die Neigung, den




*) Patriotische Phantasien.
oder Freizeiten -- wie im Gottesfrieden.
Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

Prozesse der Gesellschaft gegen den Einzelnen. Nur indem er die beiderseitigen
Interessen sorgsam gegen einander abwägt, gelangt er zur Gerechtigkeit. Der
Verbrecher allein ist niemals das allein zu berücksichtigende Rechtsobjekt.

Noch heute sehr lesenswert ist der Aufsatz von I. Möser über die Todes¬
strafe/") Er fragt nicht, woher die Obrigkeit das Recht erhalten habe, diesen
oder jenen Verbrecher mit dem Tode zu bestrafen, sondern er fragt, woher
die Obrigkeit das Recht habe, diesen oder jenen Verbrecher am Leben zu
erhalten. Nachdem die Blutrache als mit der staatlichen Ordnung unverträglich
erkannt war, griff der Staat mit dem Strafgesetz ein. „Die Obrigkeit lieh
nicht so oft dem Rächer ihr Schwert, als sie den Verbrecher in Schutz nahm.
Es war mehr Wohlthat für diesen als für jenen, daß sie der Privatrache Ziel
setzte; und so wäre es ein offenbarer Mißbrauch ihres Amtes gewesen, wenn
sie dem Verbrecher zu viel nachgegeben und ihn in den Füllen verschont hätte,
worin ihn der Beleidigte umbringen konnte. Alles, was sie thun konnte,
mußte darauf hinausgehen, den unwilligen oder unglücklichen Totschläger von
dem vorsätzlichen und schuldigen Mörder zu unterscheiden. . . . Das Recht der
Privatrache geht im Stande der Natur so weit als die Macht, und man weiß
von keinen andern Grenzen; und wie schwer es gehalten habe, die Menschen
von diesem Grundsatze abzubringen, legt sich am ersten daraus zu Tage, daß
fast kein einziger Gesetzgeber es gewagt, denselben geradezu und auf einmal
umzustoßen, sondern überall zuerst gesucht, denselben durch Anordnung gewisser
Freiörter, **) wo der Verbrecher gegen seinen Verfolger sicher war, allmählich
zu schwächen. Diesemnach scheint es, daß man die Vermutung für die Privat¬
rache — welche noch jetzt in gewissen Fällen, wo die Ehre eines Mannes be¬
leidigt ist, aller Gesetzgebung und allen Strafen trotzt — fassen und von der
Obrigkeit den Beweis fordern könne, wodurch sie sich berechtigt halte, gewisse
Verbrecher beim Leben zu erhalten."

Leider ist unter der Herrschaft des freisinnigen Zeitgeistes die Politik in
das Rechtsgebiet eingedrungen und hat es so weit gebracht, daß das Unrecht
vor zu weit gehender Verfolgung mehr geschützt ist, als das Recht vor dem
Verbrechen. Das Gericht, wie es thatsächlich ist, schreckt den Gewohnheits¬
verbrecher nicht ab, bessert den Schwachen nicht und macht ihn doch unglücklich.


3

Der Mensch ist weder Engel noch Teufel; er ist nicht von Haus aus ein
Normalwesen, das von selber das Gute thut und nur besserer Einsicht bedürfte,
er ist auch nicht von Natur ein Kranker, den zu strafen Unsinn wäre, sondern
er ist ursprünglich ein Egoist, der zu einem geselligen Leben erzogen werden
muß. Der naive Egoismus der Kinder ist ja allbekannt. Die Neigung, den




*) Patriotische Phantasien.
oder Freizeiten — wie im Gottesfrieden.
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[0023] Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien Prozesse der Gesellschaft gegen den Einzelnen. Nur indem er die beiderseitigen Interessen sorgsam gegen einander abwägt, gelangt er zur Gerechtigkeit. Der Verbrecher allein ist niemals das allein zu berücksichtigende Rechtsobjekt. Noch heute sehr lesenswert ist der Aufsatz von I. Möser über die Todes¬ strafe/") Er fragt nicht, woher die Obrigkeit das Recht erhalten habe, diesen oder jenen Verbrecher mit dem Tode zu bestrafen, sondern er fragt, woher die Obrigkeit das Recht habe, diesen oder jenen Verbrecher am Leben zu erhalten. Nachdem die Blutrache als mit der staatlichen Ordnung unverträglich erkannt war, griff der Staat mit dem Strafgesetz ein. „Die Obrigkeit lieh nicht so oft dem Rächer ihr Schwert, als sie den Verbrecher in Schutz nahm. Es war mehr Wohlthat für diesen als für jenen, daß sie der Privatrache Ziel setzte; und so wäre es ein offenbarer Mißbrauch ihres Amtes gewesen, wenn sie dem Verbrecher zu viel nachgegeben und ihn in den Füllen verschont hätte, worin ihn der Beleidigte umbringen konnte. Alles, was sie thun konnte, mußte darauf hinausgehen, den unwilligen oder unglücklichen Totschläger von dem vorsätzlichen und schuldigen Mörder zu unterscheiden. . . . Das Recht der Privatrache geht im Stande der Natur so weit als die Macht, und man weiß von keinen andern Grenzen; und wie schwer es gehalten habe, die Menschen von diesem Grundsatze abzubringen, legt sich am ersten daraus zu Tage, daß fast kein einziger Gesetzgeber es gewagt, denselben geradezu und auf einmal umzustoßen, sondern überall zuerst gesucht, denselben durch Anordnung gewisser Freiörter, **) wo der Verbrecher gegen seinen Verfolger sicher war, allmählich zu schwächen. Diesemnach scheint es, daß man die Vermutung für die Privat¬ rache — welche noch jetzt in gewissen Fällen, wo die Ehre eines Mannes be¬ leidigt ist, aller Gesetzgebung und allen Strafen trotzt — fassen und von der Obrigkeit den Beweis fordern könne, wodurch sie sich berechtigt halte, gewisse Verbrecher beim Leben zu erhalten." Leider ist unter der Herrschaft des freisinnigen Zeitgeistes die Politik in das Rechtsgebiet eingedrungen und hat es so weit gebracht, daß das Unrecht vor zu weit gehender Verfolgung mehr geschützt ist, als das Recht vor dem Verbrechen. Das Gericht, wie es thatsächlich ist, schreckt den Gewohnheits¬ verbrecher nicht ab, bessert den Schwachen nicht und macht ihn doch unglücklich. 3 Der Mensch ist weder Engel noch Teufel; er ist nicht von Haus aus ein Normalwesen, das von selber das Gute thut und nur besserer Einsicht bedürfte, er ist auch nicht von Natur ein Kranker, den zu strafen Unsinn wäre, sondern er ist ursprünglich ein Egoist, der zu einem geselligen Leben erzogen werden muß. Der naive Egoismus der Kinder ist ja allbekannt. Die Neigung, den *) Patriotische Phantasien. oder Freizeiten — wie im Gottesfrieden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/23>, abgerufen am 29.04.2024.